Der beliebte Berliner Bergmannkiez soll ein Musterbeispiel für ein verkehrsberuhigtes Quartier sein. Doch nicht alle sind glücklich: Ein Anwohner aus einer Nachbarstraße und ein Radfahrer klagen gegen die Maßnahmen – aber ohne Erfolg.
Wenn an einem Dienstagmorgen im Plenarsaal des Berliner Verwaltungsgerichts (VG) nicht nur zahlreiche Zuschauer und Pressevertreter erscheinen, sondern auch Anwälte aus zwei der renommiertesten Berliner Kanzleien für Verwaltungsrecht, um über eine Einbahnstraßenregelung zu streiten, dann ist klar, es geht nicht um irgendeine Straße. Es geht um die Bergmannstraße in Berlin-Kreuzberg, nach der gleich ein ganzer Kiez benannt ist: der Bergmannkiez, gründlich gentrifizierter Kern Kreuzbergs, "one of Berlin’s most charismatic neighbourhoods" laut Reiseführer Lonely Planet, mit Cafés, Läden und der Marheineke Markthalle ein Ziel für Touristen, aber auch bei Berlinern beliebtes Wohn- und Ausgehquartier. Und irgendwie geht es auch um die ganze Berliner Verkehrspolitik.
Der Bergmannkiez sollte ein "Kiez der Zukunft" sein – der Bezirk experimentiert hier schon seit mehr als zehn Jahren mit verschiedenen Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung. Auf ersten Plakaten zum Modellprojekt waren kleine Rasenflächen und in einer Wasserrinne planschende Kinder zu sehen. Ganz so sieht es heute nicht aus, aber es gibt Hochbeete in weißen Holzkästen, einen grün markierten Radweg, der in zwei Richtungen befahrbar ist, Zebrastreifen für Fußgänger, die den Radweg überqueren wollen und einen "Multifunktionsstreifen mit Parkbuchten in der Mitte der Fahrbahn sowie einen Lieferstreifen am nördlichen Fahrbahnrand", so erklärt es jedenfalls Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes des Bezirks der 11. Kammer des VG Berlin.
Mit dem Kiez der Zukunft sind aber durchaus nicht alle glücklich. Und so hatte das VG am Dienstag über zwei Klagen zu verhandeln. Der erste Fall: Ein Anwohner aus der benachbarten Nostitzstraße. Er finde es gut, dass über Verkehrsberuhigung nachgedacht wird, sagt er gleich zu Beginn der Verhandlung. Er sei auch dafür, dass Radfahrern und Fußgängern etwas Gutes getan wird und er fahre selbst nicht Auto, sondern nehme das Rad oder den ÖPNV. Aber in der Nostitzstraße sei es seit der Verkehrsberuhigung eben nicht ruhiger geworden, sondern lauter: "Früher waren hier nur die Anwohner, die einen Parkplatz gesucht haben. Jetzt sind es ganze Pkw-Kolonnen, die durchfahren und wenn die noch schnell die grüne Ampel erwischen wollen, halten sie sich auch nicht an das Tempolimit."
"Was ist der korrekte Begriff für das Gegenteil einer Einbahnstraße?"
Außerdem kämen Lieferwagen und Sattelschlepper durch die Nostitzstraße, um die Supermärkte zu beliefern, die sie durch die Bergmannstraße nicht mehr erreichen können. Und das alles auf Kopfsteinpflaster – in seiner Wohnung im dritten Stock mit Fenster zur Straße sei es jetzt unerträglich laut. Und weil er den Eindruck hat, dass der Bezirk sich um die Nostitzstraße überhaupt nicht kümmert, hat er einen Anwalt beauftragt, Dr. Julian Augustin von der Berliner Kanzlei Redeker Sellner Dahs, die ansonsten nicht selten das Land Berlin oder die Bundesregierung vertritt.
Das Bezirksamt schickt seinerseits Prof. Dr. Remo Klinger ins Rennen, Partner von Geulen & Klinger, einer der Köpfe hinter der Verfassungsbeschwerde, die zum Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts geführt hat und Vertreter der Deutschen Umwelthilfe in zahlreichen Klimaklagen und Verfahren zu Dieselfahrverboten. Eine hochkarätige Besetzung also auf beiden Seiten – dabei sind schwierige rechtliche Fragen eigentlich gar nicht zu klären.
Stattdessen beugen sich alle Beteiligten mehrfach über die Planungszeichnung des Bezirksamts – "ein sogenannter Rotplan", erklärt Weisbrichs Kollege Olaf Rabe, Abteilungsleiter Straßen – um herauszufinden, wofür schwarze, blaue und rote Markierungen stehen, wo die Tempozone 20 gilt, wo die Streckengeschwindigkeitsbegrenzung die Zonenregelung aufhebt, und: "Was ist eigentlich der korrekte Begriff für das Gegenteil einer Einbahnstraße?", fragt die Vorsitzende Richterin. Das kann keiner beantworten.
"Wir fällen keinen Baum!"
Die Einbahnstraße ist jedenfalls das, was den Anwohner aus der Nostitzstraße stört – und, wie er sagt, nicht nur ihn, sondern auch seine Nachbarn. Die Bergmannstraße sei doch breit genug, um einen sicheren Radweg und Autoverkehr in beide Richtungen zu ermöglichen und die Nostitzstraße wieder zu entlasten. Das gehe auf gar keinen Fall, heißt es seitens des Bezirksamts. "Wir werden hier nicht zwanzig Bäume fällen, um die Gehwege zu verkleinern, damit man die Fahrbahn verbreitern kann", ruft Weisbrich. "Wir kämpfen um jeden einzelnen Baum!" Nein, dass Bäume gefällt werden, will auch in der Nostitzstraße keiner. Nur irgendeine Lösung, mit der insbesondere der Lieferverkehr wieder durch die Bergmannstraße führt.
"Das, was in der Straßenverkehrsordnung steht, ist nun mal Gefahrenabwehrrecht", erklärt die Vorsitzende Richterin Griegoleit. "Man denkt ja immer, das wäre ganz anders, weil so viel über gute Ideen gesprochen wird, über planerische Fragen, darüber, wie man den Radverkehr gestalten kann." Aber um gute Ideen geht es eben nicht – jedenfalls nicht in § 45 Straßenverkehrsordnung (StVO). Der Fall ist damit ziemlich klar: Der Bezirk hatte hier eine Gefahrenlage erkannt, dafür sprach etwa die Unfallstatistik der Polizei. 2018 bis 2020 habe es 89 Unfälle mit 175 Beteiligten gegeben, dabei vier schwer verletzte Radfahrer. Darauf durfte der Bezirk reagieren und den Autoverkehr einschränken – wie er das genau macht, bleibt ihm überlassen.
Für die Nostitzstraße seien nun ebenfalls verkehrsberuhigende Maßnahmen geplant, nämlich sogenannte Berliner Kissen, erklärt Weisbrich: "Das sind gemauerte, gepflasterte oder asphaltierte Erhöhungen, die das Fahrzeug anheben – aber im Gegensatz zu einer Schwelle sind sie breiter, deshalb macht es nicht bumbumbum, sondern es gibt eine Sinuskurve, das ist akustisch viel vorteilhafter." Für den Anwohner aus der Nostitzstraße ein schwacher Trost, die Klage zurücknehmen will er nicht.
"An Tempo 10 hält sich niemand"
Die 11. Kammer hat schon etwas überzogen, der zweite Fall beginnt mit Verspätung. Rechtsanwalt Christoph Hermann vertritt sich selbst. Er ist auch Fahrradfahrer und er fährt täglich durch die Bergmannstraße. Der Zwei-Wege-Radweg gefällt ihm gut, ihn stört nur eins: Dass er nur Tempo 10 fahren darf. Denn das gilt für Autos und Fahrräder gleichermaßen, wobei sich auf dem Radweg niemand daranhalte, so Hermann.
Und das lasse sich auch nicht ändern, so Weisbrich, der nun auf prominente anwaltliche Unterstützung verzichtet und stattdessen den Justiziar des Bezirksamts mitgebracht hat: "Der Fahrrad-Sonderweg ist ein einheitlicher Verkehrsraum mit der Multifunktionszone", erklärt Weisbrich. Mit anderen Worten: Auf einer Fahrbahn können nicht zwei verschiedene Tempolimits für Autos und Fahrräder gelten. Und Tempo 10 sei nun mal notwendig zur Gefahrenabwehr – seit der Umgestaltung seien nämlich noch mehr Fußgänger und Radfahrer in der Bergmannstraße unterwegs als vorher.
Hermann stellt eine Reihe von Beweisanträgen, mit denen die Gefahrenlage vor Ort überprüft werden soll. Die Idee, dass die Mitglieder der Kammer mit Rad und Tacho die Strecke selbst abfahren, gefalle ihr besonders gut, sagt die Vorsitzende Richterin – lehnt aber trotzdem ab.
VG lehnt beide Klagen ab
Am Ende des Tages haben beide Kläger kein Glück: Das VG lehnt sämtliche Klagen ab, Berufung wird nicht zugelassen. Die verkehrsberuhigte Bergmannstraße bleibt, wie sie ist. Er sei heute Morgen noch durchgefahren, sagt Weisbrich. Mit Tempo 10 natürlich. Das habe nur vierzig Sekunden länger gedauert.
Ob die Umgestaltung eine gute Idee war oder nicht, bleibt offen – nach den Maßgaben der StVO war sie rechtmäßig. Und da geht es eben nur um das Gefahrenabwehrrecht.
VG Berlin zur verkehrsberuhigten Bergmannstraße: . In: Legal Tribune Online, 14.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51311 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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