Rechtliche Hürden für die Verkehrswende: Der Umweg übers Stra­ßen­recht

Gastkommentar von Dr. Almut Neumann, LL.M. (LSE)

30.12.2020

Der Streit um die Berliner Pop-up-Radwege zeigt: Die Straßenverkehrsordnung macht die Verkehrswende hin zu umweltfreundlicher Mobilität kompliziert. Einfacher wäre es, wenn man sie über das Straßenrecht einleitete, meint Almut Neumann.

Die Verkehrswende ist in aller Munde: Städte wie Barcelona, Paris und Wien verfolgen allesamt ehrgeizig das Ziel, Autos weitestgehend aus ihren Innenstädten zu verbannen. Und auch die Mehrheit der Gesellschaft hier in Deutschland befürwortet es, auf eine umweltfreundliche Mobilität umzusteigen und die Alternativen zum Auto – also insbesondere den Fuß- und den Radverkehr sowie den öffentlichen Personennahverkehr – zu stärken. 

Für einen solchen Wandel sprechen viele Gründe. Der derzeitige Verkehr ist mit seinem großen Anteil an Autos mit Benzin- oder Dieselmotoren ein Mitverursacher des Klimawandels. In den Städten leiden die Menschen unter Lärm und schlechter Luft und es gibt immer massivere Platzprobleme durch fahrende wie parkende Autos – die Lebensqualität nimmt umso stärker ab, je weniger der öffentliche Raum zum Verweilen einlädt. Zudem nimmt die Zahl der Verkehrsunfälle zu und es sterben in Deutschland statistisch gesehen pro Tag acht Menschen als Opfer eines Verkehrsunfalls. Auch wenn die Zahl der Verkehrstoten in den vergangenen Jahren gesunken ist, ist Deutschland damit immer noch weit entfernt von einer "Vision Zero", also der Vision, dass es im Straßenverkehr keine Toten und Schwerverletzten geben soll.

Wie aber kann eine Verkehrswende, die diese Probleme lösen will, in Deutschland rechtlich gestaltet werden? Das erweist sich in der Praxis teilweise schwieriger als gedacht. Denn wenn die Straßenverkehrsbehörden Maßnahmen auf Grundlage der Straßenverkehrsordnung (StVO) treffen wollen, finden sie dort keine allgemeine Rechtsgrundlage, um wegen verkehrsordnungspolitischer Konzeptionen beispielsweise bestimmte Verkehrsarten zu beschränken. 

Die Krux: Kaum Handlungsspielraum für die Behörden nach StVO

Vielmehr sind sie an den ehernen Grundsatz gebunden, dass derartige Beschränkungen lediglich zur Abwehr von konkreten Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs getroffen werden dürfen (vgl. § 45 Abs. 1 S. 1 StVO). Und auch im Hinblick auf die Abwehr dieser Verkehrsgefahren schränkt die StVO den Handlungsspielraum stark ein: Dass die Sicherheit von Verkehrsteilnehmer:innen betroffen ist, reicht allein nicht für ein Tätigwerden aus; vielmehr müssen die Verkehrssicherheitsbelange die Anordnungen der Behörden "zwingend geboten" erscheinen lassen (§ 45 Abs. 9 S. 1 StVO).

Anschaulich wird diese Problematik am Beispiel der sogenannten Pop-up-Radwege, die in Berlin im Frühjahr 2020 auf Grundlage der Straßenverkehrsordnung eingerichtet wurden und die die Verkehrswende in Berlin ein gutes Stück voranbrachten. Die Verwaltung begründete die Errichtung der Pop-Up-Radwege damit, dass es aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie erforderlich sei, die systemrelevante nötige Mobilität zu gewährleisten, und dass die Schaffung sicherer Radverkehrsanlagen daher beschleunigt durchzuführen sei. 

Das Verwaltungsgericht Berlin entschied im Rahmen eines gegen die Pop-up-Radwege angestrengten Eilverfahrens allerdings, dass zur erforderlichen Darlegung einer konkreten Gefahrenlage im Rahmen der StVO der Hinweis auf die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie nicht verfangen könne – denn dieser stelle gerade keine verkehrsbezogene Erwägung dar. Mangels Darlegung einer konkreten Gefahr und besonderer Umstände, die die Anordnung der Radfahrstreifen zwingend erforderlich machten, hielt das Verwaltungsgericht die Pop-up-Radwege auf dieser Tatsachengrundlage für nicht von der StVO gedeckt. 

Die Berliner Verwaltung hat zwar im anhängigen Beschwerdeverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die für die verkehrsbezogene Gefahrenprognose erforderlichen Tatsachen durch Nachreichung von Verkehrszählungen, Unfallstatistiken u.ä. belegt, so dass es gut möglich erscheint, dass das Oberverwaltungsgericht die Einrichtung der Pop-up-Radwege nunmehr für rechtmäßig erachten könnte. Allerdings zeigt der Fall eindrücklich, dass auf Grundlage der derzeit geltenden StVO mit ihrem Ideal des fließenden Kraftfahrzeugverkehrs Beschränkungen eben dieses Verkehrs nur aus verkehrsbezogenen Erwägungen getroffen werden können – und die Begründungslast hierbei für die Verwaltung sehr hoch liegt.

Nicht erst beim "Wie" der Straßennutzung ansetzen

Die StVO gehört zum Straßenverkehrsrecht. Dieses regelt das "Wie" der Straßennutzung. Es ist jedoch nur die eine Seite der Medaille, wenn es um die rechtlichen Fragen des Verkehrs auf Straßen geht. Denn die andere Seite der Medaille – das "Ob" dieser Nutzung – wird vom Straßenrecht geregelt: Die straßenrechtliche Widmung einer Straße bestimmt, für welche Nutzungen diese vorgesehen ist. Erst im Rahmen dieser Widmung kommt dann das Straßenverkehrsrecht zum Tragen. 

Die allermeisten Straßen in Deutschland sind bislang uneingeschränkt für alle Verkehrsarten – vom Fußverkehr bis zum Kraftfahrzeugverkehr – gewidmet. Es sind aber vielfältige andere Widmungen denkbar. Prominentestes Beispiel sind die Fußgängerzonen: Die Widmung bezieht sich hier grundsätzlich nur auf den Verkehr zu Fuß.

Auch bislang uneingeschränkte Widmungen von Straßen lassen sich aber abändern. Durch Umwidmung, auch Teileinziehung genannt, kann die Widmung nachträglich auf bestimmte Benutzungsarten, Benutzungszwecke oder Benutzerkreise beschränkt werden. Lediglich personenbezogene Widmungsbeschränkungen (zum Beispiel: "Nur die Bewohner:innen aus X dürfen hier fahren") sind unzulässig. Neben den traditionellen Fußgängerzonen lässt sich beispielsweise an die Umwidmung von Straßen lediglich für Fußgänger:innen und Fahrradfahrer:innen sowie für den öffentlichen Personennahverkehr denken, also für den sogenannten Umweltverbund. Hinzukommen kann dann beispielsweise noch der (gegebenenfalls zeitlich beschränkte) Lieferverkehr.

Der Clou: Straßenrecht setzt keine konkrete Gefahr für Verkehrssicherheit voraus

Anders als bei Anordnungen auf Grundlage des Straßenverkehrsrechts sind bei einer straßenrechtlichen Umwidmung keine konkreten Gefahren für die Verkehrssicherheit erforderlich. Eine Umwidmung kann vielmehr nach dem Wortlaut der meisten Landesgesetze zum Straßenrecht "aus überwiegenden Gründen des öffentlichen Wohls" erfolgen. Sie ist also ein Instrument zur Stadtgestaltung, für welches mannigfaltige Gründe in Betracht kommen, beispielsweise die Verkehrsberuhigung und Entlastung vom Durchgangsverkehr, die Verbesserung der Aufenthaltsqualität und des Wohnumfelds, die Vermeidung von Lärm und Abgasen, die Verbesserung der Sicherheit von schwächeren Verkehrsteilnehmer:innen, insbesondere von älteren Menschen und Kindern, die Förderung des geschäftlichen und kulturellen Lebens sowie die Schaffung eines Lebensraums für Erholung und für Kommunikation; hinzu kommt nunmehr als gewichtiger Grund noch der Beitrag zum Klimaschutz.

Das Rechtsinstrument der straßenrechtlichen Umwidmung bietet den Städten und Kommunen also die große Chance, die Verkehrswende unabhängig von der restriktiven StVO aktiv und zudem rechtssicher zu gestalten und den öffentlichen Raum so neu aufzuteilen.

Teilweise gehen einzelne Städte in Deutschland nun auch genau diesen Weg: So hat die Stadt Halle kürzlich entschieden, ihre Innenstadt autofrei zu machen. In Hamburg wird seit Oktober dieses Jahres der Jungfernstieg in einen autofreien Bereich umgestaltet. Auch in Hannover und anderen Städten gibt es ähnliche Pläne für autofreie Bereiche in dem Bestreben, den öffentlichen Raum sauberer, sicherer und schöner zu machen. Es bleibt zu hoffen, dass sich weitere Städte und Kommunen diesem Beispiel anschließen und die Verkehrswende mitgestalten werden. Für sie gilt ebenfalls das Motto: Nutzt das Straßenrecht!

Dr. Almut Neumann, LL.M. (LSE) ist Richterin in Berlin und engagiert sich ehrenamtlich bei einer verkehrspolitischen Initiative in Berlin.

Zitiervorschlag

Rechtliche Hürden für die Verkehrswende: . In: Legal Tribune Online, 30.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43856 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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