Mit der Entscheidung, in ganz Berlin die Wahl zu wiederholen, geht der VerfGH weiter als gedacht. Ein Sondervotum macht deutlich, dass man über die Begründung des Gerichts streiten kann.
Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin müssen im gesamten Wahlgebiet wiederholt werden. Das hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin entschieden.
Bei der Verkündung im Plenarsaal lässt Präsidentin Ludgera Selting keinen Zweifel daran, wen das Plenum für das Desaster am Wahltag verantwortlich macht: Die Landeswahlleitung und die Senatsverwaltung für Inneres. Die Wahlen seien derartig schlecht vorbereitet gewesen, dass allein darin schon ein Wahlfehler liege, der dann weitere nach sich gezogen habe.
Selting betonte, es habe sich nicht um Wahlfälschungen oder andere Manipulationen gehandelt. Die 38.000 ehrenamtlichen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer hätten nach Überzeugung des Gerichts vielmehr zumeist alles versucht, um die Probleme zu lösen. Dass dies in vielen Fällen nicht gelungen sei und nicht gelingen konnte, habe an den schweren systemischen Mängeln in der Wahlvorbereitung gelegen.
Die Entscheidung hatte sich abgezeichnet: Bei der mündlichen Verhandlung am 28. September dieses Jahres, die wegen des großen Andrangs im Hörsaal der FU Berlin stattfand, hatte Selting zu verstehen gegeben, dass der VerfGH eine vollständige Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus für möglich halte. Dass das Verfassungsgericht sich aber in einer "vorläufigen Einschätzung" schon zu Beginn der Verhandlung derart deutlich positionierte und anschließend keinerlei Rechtsgespräch mit den Beteiligten suchte, sorgte für Irritationen.
Punktuelle Nachwahlen reichen nicht, weitreichende Nachwahlen wären undemokratisch
Nun betonte Selting, dass der VerfGH sich ein umfassendes Bild von den Ereignissen am Wahltag gemacht habe - insbesondere aus dem Inhalt der 2.256 Wahlniederschriften der Urnenwahllokale, sowie aus den Protokollen der Bezirkswahlausschüsse und des Landeswahlausschusses, den etwa 100 schriftlichen Stellungnahmen der Einsprechenden und sonstigen Beteiligten und den Antworten der Landeswahlleitung auf einen Fragenkatalog, wie auch einer nachgereichten Stellungnahme.
Dabei habe sich gezeigt: Tausende Wahlberechtigte hätten ihre Stimme nicht, nicht wirksam, nicht unter zumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben können. Teilweise kam es zu langen Schlangen vor den Wahllokalen, teilweise wurden Wahllokale zwischenzeitlich geschlossen, weil Stimmzettel fehlten, teilweise wurden Kopien von Stimmzetteln ausgegeben. Dies entspreche nicht den amtlichen Anforderungen an Stimmzettel und hätte nicht zu einer wirksamen Stimmabgabe führen dürfen. Zudem hatte fast die Hälfte der Wahllokale noch nach 18 Uhr geöffnet, 244 Wahllokale sogar noch nach 18:30. Zu diesem Zeitpunkt wurden aber schon erste, auf Nachwahlbefragungen beruhende Prognosen veröffentlicht, was die Wahlberechtigten bei der Stimmabgabe beeinflussen konnte. Die Richterinnen und Richter sehen Verstöße gegen die Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit der Wahl.
Der VerfGH geht davon aus, dass die festgestellten Wahlfehler die Verteilung der Sitze im Abgeordnetenhaus beeinflusst haben. Die Mandatsrelevanz stehe für die Erststimme in 19 der überprüften 22 Wahlkreise und für die Zweitstimme im gesamten Wahlgebiet fest. Allerdings könne nur eine Wiederholung der Wahl im gesamten Wahlgebiet verfassungsrechtliche Standards wieder herstellen. Eine nur punktuelle Berichtigung der Wahl durch eine Wiederholung in einzelnen Wahllokalen komme in Anbetracht der schwerwiegenden und flächendeckenden Fehler nicht in Betracht. Nur die Zweitstimme in ganz Berlin nachwählen zu lassen und nur in einzelnen Bezirken auch die Erststimme, entspreche aber auch nicht den Wahlgrundsätzen und dem Demokratieprinzip. Denn die Repräsentation des Volkswillens durch Wahlen sei nur gesichert, wenn diese den Willen der Wählenden zu einem bestimmten Zeitpunkt abbilden, argumentiert das Gericht.
Damit bestimmen die Richterinnen und Richter sozusagen einen Kipppunkt: Wenn die Wahl nicht mehr durch punktuelle Nachwahlen zu retten ist, dann muss sie eben insgesamt wiederholt werden. Letztlich sei es nicht möglich, mit mathematischer Genauigkeit nachzuweisen, wie die Sitzverteilung beeinflusst wurde. Da aber nur die konkrete Möglichkeit des Einflusses auf das Wahlergebnis ankomme, gehe das Defizit bei der Sachverhaltsermittlung zu Lasten der Senatsverwaltung. Damit sei es "unvermeidlich", allen Beteiligten den Kraftakt einer Wahlwiederholung aufzubürden, erklärte Selting.
Sondervotum von Verfassungsrichterin Lembke: vollständige Wahlwiederholung nicht überzeugend
Allerdings zeigten sich davon nicht alle Richterinnen und Richter überzeugt. Das Ergebnis erging mit 7:2 Stimmen. Verfassungsrichterin Prof. Dr. Ulrike Lembke verfasste ein Sondervotum. Das Verständnis der Plenumsmehrheit "überdehnt den Grundsatz der potentiellen Kausalität erheblich", heißt es darin. Lembke betont, dass sie ebenso wie die Mehrheit gravierende Wahlfehler sieht. In Bezug auf die Zweitstimmen seien die Fehler auch mandatsrelevant.
Bei der Mandatsrelevanz der Erststimmen sehe das jedoch anders aus und die Schlussfolgerung des Plenums, die Wahlen müssten im gesamten Wahlgebiet für ungültig erklärt und damit vollständig wiederholt werden, will Lembke auch nicht folgen. Hier hätte man die Mandatsrelevanz detailliert prüfen müssen. Es sei auch nicht schlüssig, die Wahlen im gesamten Wahlgebiet zu wiederholen, zumindest hätte eine derart weitreichende Entscheidung sehr viel besser begründet werden müssen.
Lembke sieht in der überschießenden Reaktion des VerfGH eine Gefahr: "Es ist zu befürchten, dass durch dieses Vorgehen entgegen den erklärten Absichten der Plenumsmehrheit das Vertrauen in die Demokratie nicht gestärkt, sondern eher sich ausbreitenden Ressentiments und Niedergangserzählungen gegenüber demokratischen Institutionen und Verfahren der Boden bereitet wird", schreibt sie in dem Sondervotum. Vor allem aber überschreite ein solches Vorgehen "die dem Verfassungsgerichtshof im Wahlprüfungsverfahren von Verfassungswegen gezogenen Grenzen."
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Neuwahlen innerhalb von 90 Tagen - oder geht doch noch jemand nach Karlsruhe?
Die Wahlen müssen nun innerhalb von 90 Tagen nach der Entscheidung des VerfGH wiederholt werden. Der neue Landeswahlleiter von Berlin, Stephan Bröchler, hatte bereits angekündigt, dass er sich auf eine Wiederholungswahl vorbereitet, als wahrscheinlicher Wahltermin gilt der 12. Februar 2023. Wahlberechtigt sind diejenigen, die am 26. September 2021 wahlberechtigt waren.
Allerdings kann niemand von den Wählern verlangen, dass sie ihre damalige Wahlentscheidung schlicht wiederholen. Die Kräfteverhältnisse im Abgeordnetenhaus werden sich also ändern. In aktuellen Umfragen liegen die Grünen vorn, als wahrscheinlich gilt, dass SPD, Linke und Grüne ihre Koalition fortsetzen könnten – dann aber unter grüner Führung. Die Legislaturperiode läuft jedoch weiter, die nächste reguläre Wahl stünde im Herbst 2026 an.
Das bedeutet auch: Die Berliner Wahlen werden vollständig wiederholt, die Bundestagswahl in Berlin wohl nur zu einem kleinen Teil. Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages hat sich dafür ausgesprochen, dass in 431 Wahlbezirken neu gewählt werden soll – in 327 Wahllokalen und in 104 Briefwahlbezirken habe es schwerwiegende Wahlfehler gegeben. Es wird jedoch damit gerechnet, dass diese Entscheidung von CDU und AfD angefochten wird. Dann muss das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entscheiden.
Auch Karlsruhe wird also noch seine Meinung zu den Berliner Zuständen kundtun – allerdings erst Monate nach der Wiederholungswahl und bezogen auf die Bundestagswahl. Auch wenn die Zuständigkeit von VerfGH und BVerfG klar abgegrenzt ist, wäre das unbefriedigende Ergebnis des Berliner Wahltages, dass zwei Verfassungsgerichte zu einer völlig unterschiedlichen Bewertung der Berliner Zustände kommen - dort standen immerhin alle Wähleinnen und Wähler in der gleichen Schlange.
War der VerfGH zu einer Vorlage an das BVerfG verpflichtet?
Eine einheitliche Bewertung wäre nur möglich, wenn sich doch noch ein Weg findet, um die Entscheidung des VerfGH überprüfen zu lassen. Die Hürden dafür sind hoch, möglich ist aber, dass einzelne Beteiligte das zumindest versuchen werden. Dass das nicht ganz unmöglich sein könnte, zeigt ein Gutachten der Kanzlei Redker Sellner Dahs, das LTO vorliegt. Demnach kämen Verfassungsbeschwerden der Beteiligten wegen Entzug des im Grundgesetz (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) gewährleisteten gesetzlichen Richters, ggf. verbunden mit einer einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über diese Verfassungsbeschwerden, in Betracht. Nämlich dann, wenn der VerfGH bei der Auslegung des Grundgesetzes von den Maßstäben des BVerfG abgewichen ist und also eigentlich zu einer Vorlage verpflichtet gewesen wäre.
Der VerfGH gab sich vorsorglich schon mal alle Mühe, zu betonen, dass eine Vorlage nach Karlsruhe eben nicht in Betracht gekommen sei und man im Einklang mit den Maßstäben des BVerfG entschieden habe. "Neu ist in diesem Verfahren nicht der rechtliche Maßstab, neu ist der zugrundeliegende Sachverhalt", betonte Selting. Die Wahlen vom 26. September 2021 seien ein "wohl einmaliger Vorgang in der Geschichte der Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland.".
Darauf, dass es ein derartiges Wahlchaos in der jüngeren Geschichte nicht gegeben hat und möglichst auch nicht mehr geben sollte, können sich allerdings wohl alle Beteiligten einigen. Ob der VerfGH bei der verfassungsrechtlichen Bewertung über das Ziel hinausgeschossen ist, darüber wird vermutlich noch lange gestritten werden.
VerfGH erklärt Wahlen zum Abgeordnetenhaus für ungültig: . In: Legal Tribune Online, 16.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50194 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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