US-Parteien schneiden sich Wahlkreise zurecht: Win­dige Manöver im Zei­chen des Sala­man­ders

von Matthias Voigt

20.11.2018

Durch geschicktes "Zuschneiden" der Wahldistrikte in einigen US-Bundesstaaten versuchen die Parteien bei Wahlen mehr herauszuholen. Der Supreme Court und Bundesgerichte müssen klären, ob das legal ist, erläutert Matthias Voigt.

"Die Schlange am See", "Ohrenschützer", "Goofy tritt Donald Duck"* – was nach fantasievollen Reaktionen auf die Tintenkleckse eines Rorschachtests klingt, sind Beschreibungen der Umrisse einiger Wahlkreise in den USA. Das besondere an ihnen ist nicht nur die außergewöhnliche Form, sondern auch die Art und Weise ihres Zustandekommens. Mit dem Aufkommen leistungsstärkerer Computer lebte in den Vereinigten Staaten vor einigen Jahren eine politische Taktik wieder auf, die sich gerrymandering nennt – kurz gesagt, der passgenaue Zuschnitt von Wahlkreisen mit dem Ziel, ein Maximum an Gesamtsitzen für eine bestimmte Partei zu erzielen.

Wie funktioniert das? Stellen wir uns vor, die gesamte Wählerschaft eines Bundesstaates bestünde aus 100 Personen. Von diesen 100 Wählern stimmen regelmäßig 40 für die blaue Partei, 60 für die rote. Das weiß man aufgrund bestimmter Faktoren wie Einkommen, Alter, race – und früherer Wahlergebnisse. Dieser Bundesstaat darf nun zehn Abgeordnete nach Washington senden. In welchen Wahlkreisen lässt er sie aber wählen? Bei Abwesenheit weiterer Faktoren würde eine unendlich oft wiederholte zufällige Grenzziehung erwarten lassen, dass im Durchschnitt sechs rote und vier blaue Repräsentanten ausgewählt werden.

Die Wähler im Bezirk "stopfen" oder "aufspalten"?

Donald Duck tritt GoofyDie Realität sieht natürlich oft anders aus. Klar, Mehrheitswahlsysteme angloamerikanischer Art - the winner takes it all - bedingen, auf den einzelnen Wahlkreis bezogen, einen Erfolgswert gleich null für einen mitunter erheblichen Anteil der abgegebenen Stimmen. Durch geschickten Zuschnitt der Wahlkreise lässt sich das Ergebnis aber bundesstaats- oder landesweit "optimieren". So lässt sich erreichen, dass eine politische Partei insgesamt reichlich unterrepräsentiert wird. Im oben genanntem Beispiel könnten die Wahlkreisgrenzen etwa so gezogen werden, dass in zwei Kreisen jeweils acht blaue und zwei rote Wahlberechtigte wohnen (sog. "packing" oder "Stopfen" der Wählerschaft einer bestimmten Couleur in einen Wahlkreis).

Die restlichen acht Wahlkreise könnten dann so ausgestaltet werden, dass dort jeweils drei blaue und sieben rote Wahlberechtigte leben. Die Kongressdelegation dieses Staates wäre also aus zwei blauen und acht roten Repräsentantinnen zusammengesetzt. Im Extremfall ließe sich sogar erreichen, dass jeder der zehn Abgeordneten sechs rote und vier blaue Bürger repräsentiert (sog. "cracking" oder "Aufspalten" der blauen Wählerschaft).

Die Delegation des Bundesstaates Ohio beispielsweise, eines der berüchtigtsten Staaten in dieser Hinsicht, wird nach den jüngsten Halbzeitwahlen ("midterms") aus 12 Republikanern und 4 Demokratinnen und Demokraten bestehen – und das, obwohl in Ohio durchschnittlich 47 Prozent der Wahlberechtigten für ihre jeweilige demokratische Kandidatin gestimmt haben. Eine zufällige Ziehung der Wahlkreisgrenzen würde also ein anderes Ergebnis nahelegen.

Anders als bei der Senatswahl, dessen "Wahlkreis"-Grenzen eben jene der Bundesstaaten selbst sind, liegt die Hoheit für die Festlegung der Wahlkreise für Abgeordnete des Repräsentantenhauses bei den Bundesstaaten – meist bei den Legislativen. Eine Neuziehung findet regelmäßig alle zehn Jahre statt, also im Rhythmus, den die US-Verfassung für die Durchführung von Volkszählungen festschreibt. Da mit dem 1. April 2020 der nächste Stichtag naht, spielten die oft wenig beachteten Halbzeitwahlen auf Bundesstaats-Ebene in diesem Jahr eine besonders große Rolle.

Weil häufig dem Gouverneur ein Vetorecht zukommt, spricht man von einer sogenannten trifecta, wenn beide Kammern und das Gouverneurshaus in der Hand einer Partei liegen. Nachdem nun auch das Rennen in Florida gelaufen zu sein scheint, werden die Republikaner künftig in 13 Bundesstaaten eine solche trifecta stellen – und damit in vielen bei der Gestaltung der Wahlkreise nahezu freie Hand haben. Auch den Demokraten ist diese Taktik selbstredend nicht fremd, der Bundesstaat Illinois etwa gilt als stark gerrymandered.

US-Gerichte auf der Suche nach den rechtlichen Grenzen

Nicht jede seltsam anmutende Wahlkreisgrenze muss aber einen böswilligen Hintergrund haben. Der US Voting Rights Act von 1965 etwa schreibt vor, dass es sog. majority-minority districts geben muss, Wahlkreise also, in denen eine Bevölkerungsgruppe die Mehrheit repräsentiert, welche national eine Minderheit darstellt. Die genannten "Ohrenschützer" etwa verbinden zwei Wohngebiete in Chicago mit größtenteils hispanoamerikanischer Bevölkerung. Die zwischen den beiden "Ohren" liegenden Straßenzüge werden hauptsächlich von schwarzen Amerikanerinnen und Amerikanern bewohnt und wählen einen eigenen Abgeordneten. Jede community bekommt so die Chance auf Repräsentation und eine Stimme im Parlament.

Während negativ diskriminierendes racial gerrymandering, also Wahlkreisgrenzen, die die Hautfarbe zum "vorherrschenden Faktor" nehmen, durch den Voting Rights Act für rechtswidrig erklärt wird, gibt es ansonsten bislang kaum rechtliche Grenzen. Insbesondere werden parteiliche Zwecke nicht als per se unzulässig betrachtet. In Gill v. Whitford hatte der Supreme Court in diesem Sommer zu entscheiden, ob der Zuschnitt der Wahlbezirke in Wisconsin die Vereinigungsfreiheit des ersten und die Gleichbehandlungsklausel des 14. Zusatzartikels der US-Verfassung verletze. Die Chance, klare überprüfbare Regeln aufzustellen und etwa das Kontrollkriterium der efficiency gap zu übernehmen, das von Seiten der Wissenschaft vorgeschlagen wurde, wurde aber vertan und der Fall aus Verfahrensgründen an die unteren Gerichte zurückverwiesen. Die nächste Gelegenheit könnte sich aber dank des demokratisch dominierten Bundesstaates Maryland schon bald ergeben.

Bewegung scheint bislang eher von unteren und bundesstaatlichen Gerichten auszugehen. So urteilte der Oberste Gerichtshof von Pennsylvania im Januar diesen Jahres, dass die dortige Grenzziehung (inklusive des gewalttätigen Goofy) die Free and Equal Elections Clause der Verfassung von Pennsylvania verletze. Es hätten ausreichend Beweise vorgelegen, dass die Grenzziehung nur der Erreichung eines "unfairen parteilichen Vorteils" gedient habe. Auch politisch scheint langsam ein Umdenken stattzufinden. Einige Bundesstaaten - Washington, Idaho, Kalifornien und Arizona setzen unabhängige Kommissionen ein, um die Wahlkreisgrenzen ziehen zu lassen. Selbst in Ohio, einem der fürs gerrymandering berüchtigsten Staaten, wurde in diesem Jahr ein Vorschlag ("Issue 1") in der Volksabstimmung angenommen, der zaghaft überparteiliche Versuche unternimmt.

Unsicherheiten in den Zeiten von Trump

Rechenleistung, Algorithmen und möglicher böser Wille hin oder her - alles Gesagte hat natürlich eine grundlegende Bedingung: dass sich im Vorhinein mit Bestimmtheit sagen lässt, welcher Straßenzug, welches Wahllokal demokratisch oder republikanisch wählen wird. Als die Pläne der Republikaner Anfang der 2010er Jahre geschmiedet wurden ("REDMAP"), ging man davon aus, dass es eine Bevölkerungsgruppe gab, die zuverlässig republikanisch wählt: die Vorstädte.

Mit dem Aufstieg Donald Trumps und der beginnenden Neuorientierung der Parteienlandschaft rechnete zu diesem Zeitpunkt kaum jemand. Die endgültige Analyse der midterms steht zwar noch aus, aber es gibt bereits einige Indizien, dass vielerorts die Grundannahme nicht mehr stimmt. Die Bewohner von Vorortdistrikten sahen sich oft nicht als Teil der neuen republikanischen Trump coalition.

Prominentes Opfer wurde die Republikanerin Karen Handel, die noch im vergangenen Jahr den vielbeachteten "teuersten Wahlkampf der Geschichte" knapp gewonnen hatte. In ihrem mehrheitlich weißen Wahlkreis in den Vororten von Atlanta, Georgia (wo die Republikaner eine trifecta innehaben) haben 60 Prozent der Wahlberechtigten einen College-Abschluss – früher eine sichere Bank für die Republikaner. Zum ersten Mal seit 1979 wird nun aber mit Lucy McBath eine Demokratin diesen Bezirk vertreten - etwas scheint nicht nach Plan gelaufen zu sein bei der Gestaltung seiner Grenzen.

Solch feingliedrige, computergestützte Überlegungen kann sich der Namensgeber des gerrymandering nie gemacht haben. Auf der Karte, die der demokratisch-republikanische Gouverneur von Massachusetts Elbridge Gerry im Jahr 1812 vorlegte, wurde von Zeitgenossen ein Wahlkreis identifiziert, der einem Salamander geglichen haben soll.

Der Autor Matthias Voigt hat nach seinem Referendariat einen Master of Laws an der University of California in Berkeley absolviert.**

* Anm. d. Red.: Irrtümlich hieß es hier zunächst: Donald Duck tritt Goofy.

** Anm. d. Red.: Präzisiert am 26.11.2020, 18.05 Uhr.

Zitiervorschlag

US-Parteien schneiden sich Wahlkreise zurecht: . In: Legal Tribune Online, 20.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32219 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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