Am Donnerstag sprach das LG München den Ex-KZ-Wachmann wegen Beihilfe zum Massenmord an Juden schuldig. LTO sprach mit dem Nebenklagevertreter Prof. Dr. Cornelius Nestler über eine komplexe Beweiswürdigung, die Strafbarkeit derer, die die großen Verbrechen erst möglich machten und die Freilassung trotz Verurteilung.
LTO: Die Taten, die John Demjanjuk vorgeworfen wurden, haben sich vor mehr als sechzig Jahren in Polen ereignet. Wieso konnte Demjanjuk nun überhaupt von einem deutschen Gericht verurteilt werden?
Nestler: In jedem der Züge, die spätere Opfer in das Lager Sobibor deportierten, befanden sich auch deutsche Staatsangehörige. Schon das begründet die Zuständigkeit eines deutschen Gerichts.
LTO: Die Verteidigung hat sich im Prozess immer wieder auf vage, zum Teil widersprüchliche Zeugenaussagen zu der Frage bezogen, ob der Angeklagte tatsächlich der im Vernichtungslager Sobibor tätige John Demjanjuk war. Wie haben die Richter nun ihre Überzeugung begründet, dass der Angeklagte personenidentisch mit John Demjanjuk, dem KZ-Wachmann ist?
Nestler: Demjanjuk als Wachmann hatte die Aufgabe, das Lager zu bewachen und dadurch sicherzustellen, dass der Massenmord im Lager stattfinden konnte.
Zur Frage der personellen Identität hat das Gericht in seiner Begründung meiner Meinung nach überzeugend das Bild eines Baumes benutzt: Die Beweisaufnahme im Prozess hat eine immense Zahl an Verästelungen gezeigt. Es ging um die Bewertung von vielen hundert Dokumenten. Zum Baum aber zählen vor allem der Dienstausweis und die Verlegungsliste. Aus beiden Dokumenten geht hervor, dass ein John Demjanjuk in Sobibor stationiert war.
"Juristisch korrekt die Beweise insgesamt gewürdigt"
Des Weiteren hat sich das Gericht vor allem auf die Aussage eines Zeugen gestützt, der mit Demjanjuk im Anschluss an die Zeit in Sobibor gemeinsam als Wachmann im Konzentrationlager Flossenbürg gewesen war und dann nach dem Krieg weitere zwei Jahre mit ihm in Landshut gelebt hat. Dieser Zeuge Nagorny schlägt die Brücke zwischen dem Ivan Demjanjuk der Dokumente und dem John Demjanjuk, der Anfang der 50ger Jahre in die USA eingewandert ist, dem Angeklagten.
Die Beweisaufnahme hat nicht umsonst weit über 50 Tage gedauert und kann hier nicht in den Einzelheiten geschildert werden. Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass sich das Gericht zu Recht nicht nur auf einzelne Beweismittel wie Zeugenaussagen gestützt, sondern juristisch korrekt die Beweise insgesamt gewürdigt hat. Letztlich gibt es überhaupt keinen Zweifel, dass der Angeklagte auch der fragliche John Demjanjuk ist.
"Der Einwand der Kollektivstrafe ist schlicht und ergreifend falsch"
LTO: Über die Frage der Personenidentität hinaus vertritt nun das Gericht offenbar die Ansicht, dass sich Demjanjuk strafbar gemacht hat, ohne dass ihm eine konkrete Tat nachgewiesen werden konnte. Gibt es in NS-Verfahren eine Art "Kollektivstrafe"?
Nestler: Die Frage ist hier doch, was mit "konkreter Tat" gemeint ist. Angenommen, jemand steht bei einem Bankraub Schmiere mit dem Auftrag, die Komplizen bei Auftauchen der Polizei freizuschießen. Selbst wenn die Polizei nicht auftaucht, ist dieses Warten auf Anweisung schon konkrete Tat genug.
Genauso verhält es sich hier: Demjanjuk war 1943 im Lager tätig und hat bei jedem Eintreffen von Zügen mit den späteren Opfern durch jede der Handlungen, zu denen er jeweils als Wachmann an diesem Tag eingeteilt war, sichergestellt, dass die Menschen ermordet werden konnten. Da jede dieser Handlungen, von denen Demjanjuk mit Sicherheit eine ausgeführt hat, den Massenmord gefördert hat, ist sein Verhalten als Beihilfe zum Mord zu werten. Insoweit ist auch der Einwand, es handele sich nun um eine „Kollektivstrafe“, schlicht und ergreifend falsch.
Auch wenn das so behauptet wurde, spielt es keine Rolle, dass nicht feststand, durch genau welche Handlung an welchem Ort im Lager der mittlerweile 91-Jährige damals den Massenmord gefördert hat. Nehmen Sie noch einmal das Bankraub-Beispiel: Sind dort die Täter maskiert und lässt sich im Nachhinein nicht klären, wer von beiden die Kassiererin bedroht oder draußen Schmiere gestanden hat, ist jeder von ihnen trotzdem zumindest wegen Beihilfe strafbar.
"Demjanjuk hätte fliehen können"
LTO: Demjanjuk handelte auf Befehl. Hatte es insoweit keine Auswirkungen auf seine Strafbarkeit, dass er Teil eines Unrechtssystems war?
Nestler: Das damals exekutierte Recht, also das Recht Hitlers und Himmlers, akzeptieren wir heute nicht – Gott sei Dank! Dass es strafbar ist, Menschen zu töten, dass Mord strafbar ist, galt aber auch damals. Auch mögliche gesetzliche Entschuldigungsgründe existierten schon im Dritten Reich.
Ein eventueller Entschuldigungsgrund hätte sich hier nur dann ergeben können, wenn Demjanjuk so hätte handeln müssen, weil eine nicht anders abwendbare Gefahr für ihn oder andere vorlag. Die Frage war also: Hätte er fliehen können?
Dafür spricht, dass die ukrainischen Wachmänner, wie wir aus Zeugenaussagen wissen, regelmäßig das Lager verlassen konnten, dann sogar Partys gefeiert haben und sich anderweitig vergnügt haben. Sie konnten also auch fliehen.
Das Gericht hat dann auch ganz generell festgestellt, dass die Wachmänner das Risiko einer ihnen bei Ergreifung durch die Deutschen drohenden Erschießung hätten eingehen müssen, um dem möglichen Zwang zur Ermordung von Menschen zu entkommen. Dieses Risiko war ihnen auch ganz klar zumutbar, so wie praktisch jeder junge Mann im Jahr 1943 in Mitteleuropa diesem Risiko ausgesetzt war.
Im Ergebnis steht fest, dass Demjanjuk auch hätte fliehen können. Ob er das überhaupt wollte, denn es war für ihn ja außerordentlich bequem im Vernichtungslager im Vergleich zu praktisch allen anderen Orten, wissen wir nicht, denn Demjanjuk hat ja bestritten, überhaupt in Sobibor gewesen zu sein.
LTO: Und inwieweit wurde nun konkret das Handeln auf Befehl vom Gericht berücksichtigt?
Nestler: Die rechtliche Vorgabe war, dass auch nach dem Militärstrafrecht ein Handeln auf Befehl eine Strafbarkeit des Befehlsempfängers nicht ausschließt, wenn der Befehl offensichtlich rechtswidrig war.
Keine Rechtskraft, keine Strafhaft
LTO: Es wurde allgemein mit Beklommenheit aufgenommen, dass Demjanjuk trotz seiner Verurteilung zu fünf Jahren Haft den Gerichtssaal in München am Donnerstag als freier Mann verlassen konnte.
Das Gericht hat den Haftbefehl gegen ihn aufgehoben und die Freilassung mit seinem hohen Alter und der fehlenden Fluchtgefahr begründet. Welche Rolle spielt die Fluchtgefahr noch, wenn es nicht mehr um Untersuchungshaft geht, sondern der Verurteilte seine Haftstrafe antreten müsste?
Nestler: Die Untersuchungshaft dauert an bis zur Rechtskraft des Urteils. Diese tritt frühestens ein nach Ablauf der einwöchigen Frist zur Einlegung der Rechtsmittel oder – und das ist ja jetzt durch die Verteidigung geschehen – nach einer Einlegung von Rechtsmitteln mit Abschluss des Revisionsverfahrens. Auch der verurteilte Demjanjuk befand sich also noch in Untersuchungshaft.
LTO: Herr Professor Nestler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Prof. Dr. Cornelius Nestler lehrt Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Köln.
Die Fragen stellten Pia Lorenz und Steffen Heidt.
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Urteil gegen John Demjanjuk: . In: Legal Tribune Online, 13.05.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3276 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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