GroKo-Verhandlungen zur Migration: Ober- oder Unter­g­renze

Lang und heftig haben sich die Koalitionsparteien über so ziemlich jeden Aspekt beim Thema Flüchtlinge gestritten. Nun scheinen sie sich in vielen Punkten einig zu sein. Sylvia Kaufhold bezweifelt, dass den Beteiligten bewusst ist, worin.

Praktikabel, politisch durchsetzbar und rechtstheoretisch vertretbar – all das müssen mögliche neue Regelungen zur Migration in die zunehmend wacklige Wertegemeinschaft namens Europa sein. Die Lösung für das emotional aufgeladene Thema könnte in einem juristisch-neutralen Ansatz liegen. Dies auch, weil quer durch die meisten Parteien eine sonst äußerst selten anzutreffende Einigkeit über das politische Ziel herrscht: Begrenzung und Kontrolle formal illegaler Zuwanderung bei Wahrung der Menschenrechte und des Rechts auf Asyl.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund einmal rein rechtlich, was CDU/CSU und SPD unter dem Titel "Migration und Integration" schon in ihrem Sondierungspapier festgehalten haben, findet man viele Unklarheiten.

Klare Zahlen, wenig Klarheit

Die Sondierungsparteien einigten sich auf einen jährlichen Aufnahmerahmen von 180.000 bis 220.000 Flüchtlingen. Denn die "Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft" dürfe nicht überfordert werden. Die Rahmenbedingungen dieses Begriffs sollen von einer neuen Fachkommission erarbeitet werden. Unterdessen fragt man sich, welchen Einfluss die Ergebnisse der Kommission auf einen bereits festgelegten Zahlenrahmen haben könnten.

Nicht berücksichtigt in dem Rahmen ist die Gruppe der legal eingereisten Zuwanderer in den europäischen Arbeitsmarkt. Denn es heißt im Sondierungspapier, die "Zuwanderungszahlen (inklusive Kriegsflüchtlinge, vorübergehend Schutzberechtigte, Familiennachzügler, Relocation, Resettlement, abzüglich Rückführungen und freiwilligen Ausreisen künftiger Flüchtlinge und ohne Erwerbsmigration)" dürften den genannten Rahmen nicht übersteigen. Unklar bleibt, ob der Aufenthalt zu Studien- und Ausbildungszwecken als Teil der Erwerbsmigration außen vor bleibt oder, was schade wäre, zur Manövriermasse wird.

Aber auch sonst ist die Formulierung der umstrittenen Obergrenze irreführend und unklar. Denn sie dürfte ausgerechnet Asylbewerber gar nicht erfassen. Im vergangenen Jahr wurden 186.644 Asylgesuche in Deutschland registriert. Doch die Anzahl der Personen, die internationalen Schutz beantragen, lässt sich nicht steuern, wenn man nicht einfach die Grenzen dicht machen will. Dies aber wäre menschenrechtswidrig. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zuletzt am Beispiel Spaniens entschieden. Folgerichtig bezieht sich die Obergrenze nur auf den "unmittelbar steuerbaren Teil der Zuwanderung – das Grundrecht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bleiben unangetastet", wie es im Sondierungspapier heißt. So wollte die SPD den Anspruch eines jeden Geflüchteten auf Einzelfallprüfung auch jenseits der Marke 220.000 absichern. Und das ist auch richtig so.

Nur ist ebenso richtig: Wenn schon die Anzahl der zur Prüfung zuzulassenden Schutzanträge faktisch nicht begrenzbar ist, gilt dies erst recht für die Anträge, die sich infolge einer solchen Prüfung als begründet erweisen. Hinzu kommen praktisch unüberwindbare Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht abgelehnter Asylbewerber – wenn ihre Einreise erst einmal gestattet wurde.

Deutschland ursprünglich nicht zur Aufnahme verpflichtet

Wird jetzt noch, was zu Recht erklärtes Ziel ist, die Migration in den Arbeitsmarkt ausgebaut, um den Fachkräftemangel und gleichzeitig die illegale Migration zu reduzieren, wird der Zuzug insgesamt immer unkalkulierbarer. Zumal jeder Erstzuzug, egal ob als Schutzberechtigter oder Erwerbsmigrant, früher oder später Einreiseansprüche von Familienangehörigen auslöst und sich somit im Zweifel potenziert. Die Zuwanderung aus EU-Ländern kommt ebenfalls hinzu.

Damit könnte sich die Obergrenze im Ergebnis als Bumerang, ja als verkappte Untergrenze erweisen. Jedenfalls liegt es nahe, dass sich der Mittelwert von ca. 200.000 als Richtwert für den asylbedingten Zuzug etabliert und die behördlichen Anstrengungen zur Durchsetzung von Dublin-Überstellungen und Ausweisungen in sichere Dritt- und Herkunftsstaaten dementsprechend konterkariert.

Denn man muss sich klarmachen: Außer bei der Familienzusammenführung und als Folge nachlässiger Antragsbearbeitung ist Deutschland auch nach EU-Recht nur in den seltensten Fällen zur Aufnahme selbst offenkundig verfolgter oder vertriebener Personen verpflichtet. Wenn humanitäre Aufnahmen insbesondere im Wege des Dublin-Selbsteintritts gleichwohl erfolgen sollen, müssten deren Bedingungen zumindest so genau spezifiziert werden, dass eine entsprechende Ermessensentscheidung bereits in den jetzt beschlossenen Transitzentren möglich ist. Wenn allerdings die aktuellen EU-Pläne zur Ausweitung der deutschen Asyl-Zuständigkeit Wirklichkeit werden, dürfte auch dafür kein Raum mehr bleiben.

Familiennachzug nicht national lösbar

Eine halbgare Lösung haben die Sondierungsparteien auch hinsichtlich des Familiennachzugs vorgelegt. Dieser ist nach der bisherigen Gesetzeslage bei subsidiär Schutzberechtigen bis Mitte März 2018 ausgesetzt. Spätestens ab August 2018 sollen nun "im Rahmen der Gesamtzahl" monatlich 1.000 Einreise- und Aufenthaltserlaubnisse für einen "geordneten und gestaffelten" Familiennachzug ausgesprochen werden können. Damit nicht alle bereits anerkannten Personen ihre Anträge auf einmal, sondern eben zeitlich gestaffelt stellen, wird auch in Zukunft eine Wartezeit von bis zu zwei Jahren unumgänglich sein. Zumal wenn sich die SPD mit ihrer Forderung durchsetzt, das Kontingent für solche Familien zu erhöhen, die bei Inkrafttreten der Regelung schon über zwei Jahre auf ihre Zusammenführung warten. Absolute Härtefälle sollten immer vorgezogen werden. Dazu reicht aber § 22 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) als Grundlage aus.

Auch wäre es besser, das monatliche Bearbeitungskontingent – entsprechend erhöht – auf den Familiennachzug insgesamt zu beziehen und nicht nur auf den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Alles andere dürfte auf Dauer unpraktikabel und sachlich kaum zu rechtfertigen sein. Auch bei den Gerichten wird ohne die Gleichbehandlung aller Schutzberechtigten keine Beruhigung einkehren. Allerdings müsste dafür erst einmal die überkommene Privilegierung von Flüchtlingen gegenüber sonstigen Drittstaatsangehörigen aus der Familienzusammenführungsrichtlinie gestrichen werden – davon ist bei den Parteien keine Rede. Doch nur dann wären die Voraussetzungen für den Familiennachzug, konkret die Sicherung von Lebensunterhalt, Krankenversicherung und Wohnung sowie ggf. eine allgemeine Wartefrist von maximal zwei Jahren, für alle gleich.

Transitzentren ja, aber nur zur Vorprüfung

Die praktisch wichtigste Einigung ist die Einrichtung zentraler "Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen (ANkER)", in denen Asylverfahren künftig "schnell, umfassend und rechtssicher bearbeitet werden können". Der Sache nach handelt es sich dabei um nichts anderes als die berüchtigten Transitzentren, welche die SPD bislang vehement ablehnte. Ohne die Rückkehr zur Einreisekontrolle geht es jedoch nicht. Denn nur durch eine Identitätsfeststellung und Vorprüfung der Asylgründe vor Gestattung der Einreise lässt sich massenhafter und systematischer Missbrauch vermeiden.

Jedoch sollten die Parteien auch diese Einigung im Koalitionsvertrag präzisieren: Im Rahmen der zu überprüfenden Identität und "Herkunft" darf nicht nur das Drittland abgefragt werden, aus dem die Einreise nach Deutschland und Europa erfolgte (also z.B. Spanien, Italien, Griechenland bzw. Marokko, Libyen, Türkei). Erforderlich ist vielmehr auch die Feststellung der Staatsangehörigkeit, und zwar in der Regel durch Vorlage eines offiziellen Ausweis- oder Reisedokuments (vgl. § 3 AufenthG). Denn nur ein valider Nationalitätsnachweis ist geeignet, die Plausibilität des behaupteten Fluchtgrundes sowie die Zuständigkeiten zu überprüfen und eine schnelle Rückführung bzw. Überstellung abgelehnter Bewerber sicherzustellen.

Stehen aber die Identität und Nationalität fest, ist es nicht angebracht, standardmäßig das gesamte Asylverfahren einschließlich Rechtsschutz im Transitzentrum durchzuführen, wie es das Sondierungspapier derzeit vorsieht. Das wäre nicht nur unpraktikabel, sondern in vielen Fällen auch unverhältnismäßig und menschenrechtlich hochproblematisch. Nur unzulässige, missbräuchliche oder in ihrer Begründung "offensichtlich nicht überzeugende" (also im weiteren Sinne unzulässige) Asylanträge dürfen nach den Grundsätzen der Asylverfahrensrichtlinie unter verschärften Residenzpflichten und bei eingeschränktem Rechtsschutz direkt im Transitzentrum erledigt werden. Bei offensichtlich begründeten Anträgen auf subsidiären Schutz könnte man ebenso verfahren. Jedoch sollte der Flüchtlings- oder Asylstatus erst nach Gestattung der Einreise, d.h. nach Verteilung auf die Kommunen, aufgrund einer vertieften Begründetheitsprüfung mit vollem Rechtsschutz verliehen bzw. versagt werden.

Wenn CDU/CSU und SPD gut beraten sind, werden sie ihren teils offenen, teils versteckten Dissens beim Thema Migration auflösen. Sie sollten ein durchdachtes Gesamtkonzept vorlegen, das auch den europäischen Reformprozess voranbringt. Für beide Volksparteien wäre das eine echte Chance auf ein Comeback.

Die Autorin Dr. Sylvia Kaufhold, Maître en droit, ist u.a. auf Vertragsgestaltung und Rechtstechnik spezialisiert. Sie praktiziert als Rechtsanwältin und freie Politikberaterin in Dresden.

Zitiervorschlag

Sylvia Kaufhold, GroKo-Verhandlungen zur Migration: . In: Legal Tribune Online, 30.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26767 (abgerufen am: 06.11.2024 )

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