LTO-Umfrage in 16 Bundesländern: Neues Canna­bis­ge­setz bringt Justiz ins Schwitzen

von Hasso Suliak

28.10.2024

Für Konsumenten bedeutete die Cannabis-Entkriminalisierung das Ende des Verfolgungsdrucks, für die Staatsanwaltschaften jede Menge Arbeit: Bundesweit mussten rund 270.000 Akten im Hinblick auf einen Straferlass händisch geprüft worden.

Viel Rauch um Nichts? Von wegen: Der Unmut in den Landesjustizverwaltungen über die seit 1. April in Kraft getretene Cannabis-Teillegalisierung ist groß. Das ist das Resultat einer im Oktober durchgeführten LTO-Umfrage in den 16 Justizressorts der Länder.

Nahezu alle Bundesländer beklagen seit der Entkriminalisierung einen erheblichen Arbeitsaufwand bei ihren Staatsanwaltschaften und teilweise auch Gerichten. Geschuldet ist dieser im Wesentlichen einer Amnestie-Regelung, die auch für vor dem 1. April begangene Cannabis-Straftaten gilt und in Artikel 313 EGStGB geregelt ist. Danach sind noch nicht vollstreckte Strafen zu erlassen, wenn die der Strafe zugrunde liegende Tat nicht mehr strafbar ist. 

"Naturgemäß mussten andere Tätigkeiten zurückgestellt werden"

Für das Cannabisgesetz (CanG) bedeutet das konkret: Mit seinem Inkrafttreten mussten bereits verhängte, aber noch nicht (vollständig) vollstreckte Strafen für Taten nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG), die jetzt nicht mehr strafbar oder mit Geldbuße bedroht sind, erlassen werden. In Fällen tateinheitlicher oder tatmehrheitlicher Verurteilungen ("deliktische Mischfälle") musste die (Gesamt-)Strafe gerichtlich neu festgesetzt werden. 

In den 16 Bundesländern führte allein diese Regelung dazu, dass fast 270.000 Akten überprüft werden mussten. Dabei gab es insgesamt auch mehr als 100 vorzeitige Haftentlassungen. Wie etwa das baden-württembergische Justizministerium mitteilte, dauerte bei den Staatsanwaltschaften im "Ländle" der Check der dort identifizierten "circa 25.000 Verfahren" zwischen 15 bis 60 Minuten pro Akte. "Naturgemäß mussten daher andere Tätigkeiten zurückgestellt werden", so ein Sprecher des Ministeriums.

Profitieren Drogendealer? 

In Bayern waren laut Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaften im Hinblick auf den Straferlass ca. 41.500 Akten händisch zu prüfen. Bis zum 15. Juni 2024 seien insgesamt 33 Gefangene, neun davon anlässlich von Neufestsetzungsverfahren, entlassen worden.

Neben dem Arbeitsaufwand beklagt Bayern auch, dass das CanG zu kompliziert ausgestaltet sei und dadurch eine Vielzahl neuer Rechtsfragen aufgeworfen würden, die Straf- und Bußgeldverfahren zusätzlich verzögerten. Das Gesetz enthalte nunmehr 37 Bußgeldtatbestände, im Betäubungsmittelgesetz waren es nur 15.

Bayerns Justizminister Eisenreich kritisierte außerdem, dass Drogendealer vom CanG profitieren würden: "Die durch das Cannabisgesetz vorgesehenen hohen Freimengen beim Besitz von Cannabis können durch Drogendealer als Deckmantel genutzt werden, wenn sie jeweils nur Mengen bei sich führen, die sich noch im Bereich der Freimengen für den Besitz bewegen. Die Aufdeckung von Straftaten im Bereich des Straßenhandels wird dadurch erheblich erschwert."

Berliner Justizsenatorin: "Gesetz auf ganzer Linie gescheitert"  

Im Land Berlin mussten nach Angaben der Senatsverwaltung 5.730 Vollstreckungsverfahren überprüft werden. "In einem Fall war eine Person aus der Haft zu entlassen. In 158 Fällen wurde die verhängte Strafe erlassen", so eine Sprecherin. Bislang seien 57 Strafen neu festgesetzt, über weitere Anträge auf Neufestsetzung sei noch nicht befunden worden, und es seien noch weitere Anträge zu stellen. 

Die zusätzlich zu den täglichen Aufgaben anfallenden Überprüfungen hätten zu einer erheblichen Mehrbelastung von mehreren tausend Arbeitsstunden bei allen Dienstgruppen geführt. Da zusätzliches Personal nicht bereitgestellt worden sei, mussten zeitweilig andere Aufgaben zurückgestellt werden. 

Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU) kritisierte gegenüber LTO: "Das Cannabisgesetz ist auf ganzer Linie gescheitert. Ziel war es, die Justiz zu entlasten – doch das Gegenteil ist eingetreten."

Aus Brandenburg heißt es, dass dort bisher etwa 70 Prozent der einschlägigen "über 3.600 Verfahren" überprüft worden seien. "Auf Grund des Inkrafttretens des CanG sind vier Verurteilte aus der Justizvollzugsanstalt entlassen und zwei laufende Ermittlungsverfahren eingestellt worden. Zudem wurden bisher in über 200 Verfahren durch die Staatsanwaltschaften Anträge auf eine gerichtliche Neufestsetzung der Strafe gestellt und in über 300 Verfahren noch nicht vollstreckte Geldstrafen und in sechs Verfahren noch nicht vollstreckte Freiheitsstrafen erlassen", so ein Sprecher.

"Rückwirkende Amnestie aus guten Gründen ein Exot"

Das Justizressort der Hansestadt Bremen berichtet LTO von 531 Vollstreckungssachen, die im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln geprüft worden seien. Unter anderem 63 Strafen seien noch nicht vollständig vollstreckt gewesen und daher erlassen worden. In ähnlich vielen Fällen mussten neue Gesamtstrafen gebildet werden.

Das SPD-geführte Ministerium steht wie viele Länder auf dem Standpunkt, dass auf die Amnestieregelung besser verzichtet worden wäre: "Eine derartige rückwirkende Amnestie ist in der deutschen Geschichte aus guten Gründen ein absoluter Exot. Für die Zukunft setzen wir auf eine Entlastung der Justiz, da es weniger Strafverfahren gegen Konsumentinnen und Konsumenten von Cannabis geben wird." 

Hamburg setzt auf zeitnahe Evaluation 

Im anderen Stadtstaat Hamburg verweist man darauf, dass von den mehr als 550 relevanten Verfahren bislang 213 (Gesamt-)Strafen teilweise oder vollständig erlassen worden seien. Insgesamt sei der bisherige Zeitaufwand verschiedener Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft erheblich gewesen, sagt Oberstaatsanwältin Mia Sperling-Karstens. Wie sich das KCanG langfristig auswirken werde und ob es zu Entlastungen kommen werden, lasse sich zurzeit nicht verlässlich beurteilen. "Insoweit wird eine zeitnahe Evaluation des Gesetzes erforderlich sein."

In Hessen gab es nach Angaben des Ministeriums neun Haftentlassungen. Bis zum 17. Oktober 2024 sei bei den hessischen Staatsanwaltschaften in 581 Verfahren hinterlegt, "dass die Strafe per Gesetz als erlassen gilt". In weiteren 171 Verfahren erfolgte eine rechtskräftige gerichtliche Neufestsetzung der Strafe. In der Summe habe sich die Rückwirkung des CanG damit bislang in 752 Verfahren ausgewirkt. 

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt bezifferte gegenüber LTO den zusätzlichen Personalaufwand für die Staatsanwaltschaften mit ca. 30 Stellen im ersten Quartal und ca. 20 Stellen im zweiten Quartal des Jahres. 

Niedersachsen: An 237 Arbeitstagen mit Cannabis-Prüfung befasst 

Ganz genau ermittelte das Niedersächsische Justizministerium in Hannover den zusätzlichen Arbeitsaufwand: Demnach wendeten die Niedersächsischen Staatsanwaltschaften zur Überprüfung von insgesamt 3.605 Vollstreckungsverfahren allein 113.894 Minuten (entspricht ca. 237 Arbeitstagen) auf, um zu ermitteln, ob eine Strafe zu erlassen bzw. neu festzusetzen war oder nicht. "Pro Akte divergierten die Zeiten im Schnitt zwischen 28 und 44 Minuten – allein bei den Staatsanwaltschaften ohne gerichtliche Beteiligung und nur zur Prüfung, ob ein Fall unter den Straferlass fiel oder nicht", so ein Sprecher.

Auch bei den Gerichten in Niedersachsen sei es zu einer Mehrbelastung gekommen. Diese sei allerdings, aufgrund der umfangreichen Vorarbeiten durch die Staatsanwaltschaften, geringer ausgefallen. Auch hier mussten jedoch an vielen Amtsgerichten Strafen neu festgesetzt werden, so das Ministerium.

Niedersachsen weist darauf hin, dass das CanG (auch) im Bereich der Strafverfolgung zudem neue rechtliche Fragestellungen (etwa die Verwertbarkeit von Encrochat-Daten) aufwerfe, die höchstrichterlich noch nicht geklärt seien. Gemeint ist damit etwa der spektakuläre Freispruch eines Mannes durch das Mannheimer Landgericht, bei dem es um die Einfuhr von 450 Kilo Marihuana ging und über den auch LTO berichtet hatte. Auf den Mann aufmerksam geworden waren die Ermittler durch die Auswertung von verschlüsselten Chatnachrichten der Software Encrochat, auf die das Gericht wegen der neuen Rechtslage als Beweismittel jedoch nicht zugreifen durfte.

NRW: "86.000 Verfahren überprüft"

In Nordrhein-Westfalen sind nach Angaben des Justizministeriums mehr als 86.000 Verfahren identifiziert wurden, deren händische Prüfung weitgehend abgeschlossen sei. "Bei der Prüfung wurden bis Ende April mehr als 9.000 sog. Amnestie-Fälle festgestellt", heißt es.

Aus Rheinland-Pfalz berichtet das FDP-geführte Justizressort, dass infolge des CanG insgesamt 49 Personen vorzeitig entlassen worden seien. 

Wie sich Gesetz bzw. die Teillegalisierung mittel- bis langfristig auf die Arbeit der Justiz auswirken wird, könne in Mainz noch nicht abgeschätzt werden. "Eine erhebliche Entlastung dürfte allerdings nicht zu erwarten sein. Denn auch nach der Neuregelung werden z.B. der Besitz, der Handel und die Abgabe von Cannabis unter bestimmten Voraussetzungen strafbar sein oder eine Ordnungswidrigkeit darstellen", so ein Sprecher des Ministeriums.

Sachsen: 29.200 Vollstreckungsverfahren gecheckt

Die sächsischen Staatsanwaltschaften haben nach Auskunft eines Ministeriumssprechers mehr als 29.200 anhängige Vollstreckungsverfahren überprüft. "Darunter sind 673 Fälle, in denen ein Straferlass und 1.030 Fälle, in denen eine gerichtliche Neufestsetzung oder Ermäßigung der Strafe zu erfolgen hatte bzw. hat", so ein Sprecher.

Insgesamt hätte der Arbeitsanfall "neben den Staatsanwältinnen und Staatsanwälten gerade auch die Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger sowie die Geschäftsstellen sehr stark belastet".

Das von der Linken geführten Justizressort in Mecklenburg-Vorpommern berichtet LTO von 6.500 zu überprüfenden Verfahren. Eine Entlassung aus der Strafhaft habe es nicht gegeben. In 178 Fällen sei die Einstellung der Geldstrafen-Vollstreckung erfolgt, in einem weiteren Fall die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe. "Probleme bei der Strafverfolgung schwerer Cannabis-Straftaten durch die neue Rechtslage" seien dem Ministerium bislang nicht bekannt geworden.

Saarland überprüfte alle 21.000 laufenden Strafvollstreckungsverfahren

In Schleswig-Holstein seien insgesamt 2.015 Verfahren händisch überprüft worden, teilte das Ministerium mit. "Bei mehr als 50 dieser Verfahren war aufgrund der Amnestieregelung des Cannabisgesetzes die Strafe zu erlassen und die Vollstreckung einzustellen oder die Strafe nach Vorlage bei dem zuständigen Gericht neu festzusetzen." Zu einer Haftentlassung sei es aufgrund der Amnestieregelung lediglich in einem Fall gekommen. 

Das saarländische Justizministerium teilte LTO mit, dass grundsätzlich sämtliche ca. 21.000 bei der Staatsanwaltschaft Saarbrücken laufenden Strafvollstreckungsverfahren überprüft wurden. "Im Zuge der Verfahrensüberprüfung wurden 828 Verfahren identifiziert, die der Regelung unterfallen und daher nachzubearbeiten sind. Davon werden 334 Verfahren einer gerichtlichen Neufestsetzung der erkannten Strafe zuzuführen sein bzw. wurden einer solchen bereits zugeführt. In den übrigen 494 Fällen ist der zum Stichtag 1. April 2024 noch nicht vollstreckte Teil der Strafe kraft Gesetzes erlassen."

Auch wenn die Überprüfung der Verfahren in einigen Ländern bereits abgeschlossen ist, graut es vielen Justizverwaltungen schon vor dem Jahreswechsel. Auch dann steht Mehrarbeit ins Haus: Denn ab dem 1. Januar 2025 haben wegen Cannabistaten Verurteilte die Möglichkeit, bei den Vollstreckungsbehörden Anträge auf Löschung von Einträgen aus dem Führungszeugnis zu stellen. Dabei geht es um Verurteilungen, die ausschließlich Taten im Zusammenhang mit Cannabis betreffen, für die das Recht künftig keine Strafe mehr vorsieht. 

Thema Cannabis-Handeltreiben auf nächster JuMiKo?

Unterdessen kritisieren die Länder neben der Arbeitsbelastung auch, dass ihnen infolge des neuen CanG bei der Verfolgung cannabisbezogener Straftaten bestimmte Ermittlungsinstrumente der Strafprozessordnung (StPO) nicht mehr zur Verfügung stünden (§§ 100a ff.). 

Unter anderem seien etwa die Telefonüberwachung, die Onlinedurchsuchung oder die akustische Wohnraumüberwachung etwa bei Verdacht des Handeltreibens mit nicht geringen Mengen an Cannabis nicht mehr im gewohnten Umfang einsetzbar. 

Das CDU-geführte Justizministerium in Potsdam beklagt: "Insbesondere die unterbliebene Aufnahme des § 34 Absatz 3 Nummer 4 KCanG in den Straftatenkatalog der Telekommunikationsüberwachung nach § 100a Abs. 2 StPO, des § 34 Absatz 3 Nummer 1 und 4 KCanG in den Straftatenkatalog der Online-Durchsuchung § 100b StPO und des gesamten § 34 KCanG in den Strafkatalog der Erhebung von Verkehrsdaten nach § 100g Abs. 2 StPO (…) schränken die Ermittlungsmöglichkeiten auch bei Einfuhr und Handeltreiben im Großhandelsbereich erheblich ein." 

Gut möglich, dass die Landesjustizminister in diesem Punkt auf ihrer Herbstkonferenz (JuMiKo) am 28. November 2024 noch einmal den Druck auf den Bundesgesetzgeber erhöhen werden. Dem Vernehmen nach wird man sich nämlich auf der JuMiKo mit der Frage befassen, ob der Gesetzgeber tätig werden muss, um den Strafverfolgungsbehörden die bisherigen strafprozessualen Möglichkeiten in der Bekämpfung der auf den Handel mit Cannabisprodukten gerichteten Organisierten Kriminalität zu sichern. 

Zitiervorschlag

LTO-Umfrage in 16 Bundesländern: . In: Legal Tribune Online, 28.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55730 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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