Der Zerfall des türkischen Rechtsstaats: Deniz Yücels Ver­tei­diger hofft auf den EGMR

von Peggy Fiebig

30.11.2017

Sein Mandant Deniz Yücel sitzt seit fast einem Jahr in U-Haft. Am Mittwoch sprach Rechtsanwalt Veysel Ok in Berlin über ausgehebelte Verfahrensrechte, absurde Anschuldigungen und die Verantwortung des EGMR.

Seit fast 300 Tagen befindet sich der Deniz Yücel mittlerweile in Untersuchungshaft – immer noch ohne Anklage. Aber seinem Mandanten gehe es trotz der Isolationshaft physisch und psychisch gut, berichtete am Mittwochabend der Verteidiger des Welt-Journalisten, der türkische Rechtsanwalt Veysel Ok.

Die Rechtsanwaltskammer Berlin hatte den Juristen eingeladen, um aus erster Hand zu erfahren, wie es um Deniz Yücel steht und auch, unter welchen Bedingungen die Arbeit von Rechtsanwälten und insbesondere von Strafverteidigern insgesamt in der Türkei überhaupt noch möglich ist.

Der 34-jährige arbeitet seit 13 Jahren im Presse- und Medienbereich und vertritt zahlreiche Journalisten. Dabei ist er auch selbst ins Visier der Strafverfolgungsbehörden geraten – als er vor einiger Zeit in einer Presseerklärung türkische Richter als nicht unabhängig bezeichnete, wurde prompt auch gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eröffnet.

Zeitenwende seit 2016

Veysel Ok beschreibt die derzeitige Situation düster. All jene, die nicht der "Mainstream-Meinung" folgen, müssten Repressalien befürchten. Der Rechtsstaat sei in der Türkei noch nie in guter Verfassung gewesen, meint Ok. So seien schon in den 90-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Journalisten, Anwälte und andere Intellektuelle juristisch verfolgt worden. Immerhin habe es aber damals noch Richter gegeben, die, wie er sagte, die Freiheit verteidigten.

Seit dem Putschversuch im Juni 2016 hätten die Sanktionen jedoch eine ganz neue Quantität und auch Qualität angenommen: 150 Journalisten, etwa 400 Rechtsanwälte und fast 3.000 Richter und Staatsanwälte wurden in der Folgezeit inhaftiert, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen wurden verboten. Man könne nicht mehr nur von einer Einschränkung von Informations- und Meinungsfreiheit sprechen – sie sei faktisch abgeschafft.

Verfahrensrechte ausgehebelt

Wem im Zuge des Putschversuchs Terrorwerbung oder die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird, der verliert den Großteil seiner prozessualen Rechte, berichtete Ok.

Viele Beschuldigte sitzen wie Yücel ohne Anklage über Monate in Untersuchungshaft. Ihre Akte wird als "geheim" eingestuft, so dass auch die Verteidigung keine Einsicht erhält. Die Gespräche von Inhaftierten mit ihrem Rechtsanwalt werden regelmäßig per Kamera aufgenommen, ein dabei anwesender Beamter hat das Recht, jederzeit einzugreifen. Bei mündlichen Verhandlungen werden Angeklagte und Verteidigung physisch voneinander getrennt – mehrere Beamte sitzen zwischen ihnen und unterbinden so jeden Kontakt und jede Abstimmung.

Wie absurd die Anschuldigungen teilweise sind, beschreibt Ok am Beispiel der Vorwürfe gegen Deniz Yücel: Aus dem einzigen Dokument, das ihm als Verteidiger zugänglich sei, dem staatsanwaltlichen Vernehmungsprotokoll, ergebe sich, dass Yücel Terrorpropaganda und Aufwiegelung zur Last gelegt werde. Allerdings publiziere dieser ja ausschließlich in deutscher Sprache, so dass man sich schon fragen müsse, wie er auf diese Weise das türkische Volk "aufwiegeln" könne. Auch die Anordnung der Untersuchungshaft stehe auf mehr als tönernen Füßen: Der Journalist hat sich immerhin selbst den türkischen Behörden gestellt – eine Fluchtgefahr könne daher schwerlich unterstellt werden. Und da sich die Vorwürfe insbesondere auf seine ohnehin öffentlich zugänglichen Artikel stützen, bestehe wohl auch kaum die Gefahr, dass er Beweise vernichten könnte, so Ok.

Hoffnung auf den EGMR

Große Hoffnung setzt Veysel Ok jetzt in den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Hier liegen derzeit über 17.000 Beschwerden gegen Entlassungen und Inhaftierungen, die nach dem Putschversuch erfolgten.

Im Frühjahr hat Ok auch in Sachen Deniz Yücel Beschwerde eingereicht. Es gebe keine Beweise dafür, dass sein Mandant türkische Strafgesetze verletzt habe und außerdem habe er keine Möglichkeit gehabt, sich in der Türkei effektiv gegen die Inhaftierung zu wehren, heißt es in seiner Begründung.

Bis zum 28. November hatte die türkische Regierung von den Straßburger Richtern Zeit bekommen, um eine Stellungnahme abzugeben. Die fragten unter anderem danach, ob die Inhaftierung von Yücel politisch motiviert war. In letzter Minute hat die Türkei dann die geforderte Stellungnahme abgegeben, bis zum Mittwochabend war sie allerdings noch nicht bei Ok angekommen, so dass der zum Inhalt noch nichts sagen konnte. Der Rechtsanwalt hofft allerdings darauf, dass sich aus der Stellungnahme auch detailliertere Hinweise auf die Tatvorwürfe ergeben.

Mangelndes Verantwortungsbewusstsein?

Ok weiß, dass sich das Verfahren, auch wenn ihm vom Gerichtshof eine hohe Priorität eingeräumt wurde, noch viele Monate hinziehen kann. Hier setzt seine Kritik an: Für ihn ist die lange Bearbeitungsdauer das Zeichen eines – hier wird er deutlich – "mangelnden Verantwortungsbewusstseins" in Straßburg.

Aber auch in rechtlicher Hinsicht könnte es sein, dass der EGMR die Erwartungen nicht erfüllt. Denn bei den bisher entschiedenen Verfahren wurden die Beschwerdeführer wieder an ihr nationales Rechtssystem zurückverwiesen, erst wenn dieser Rechtsweg ausgeschöpft sei, stehe der Weg nach Straßburg offen.

Welche Möglichkeiten es denn für deutsche Anwaltsorganisationen gebe, die türkischen Kollegen zu unterstützen, fragte zum Abschluss des Abends der Präsident der Rechtsanwaltskammer Berlin, Marcus Mollnau. Ok wünschte sich neben der Fortführung der Prozessbeobachtung vor allem fachliche Unterstützung bei Verfahren vor dem EGMR. Viele seiner Kollegen hätten hier wenig Erfahrung und seien auf entsprechende Fortbildungen angewiesen.

Zitiervorschlag

Der Zerfall des türkischen Rechtsstaats: . In: Legal Tribune Online, 30.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25777 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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