2/2: Mehrheitlich negative Stimmen zum Entwurf
Nicht alles, was – wie dargelegt – zu sinnwidrigen Ergebnissen führt oder wichtige Probleme ungelöst lässt, ist verfassungswidrig. In dem Entwurf liegt jedoch eine strukturelle Benachteiligung von Spartengewerkschaften, die rechtfertigungsbedürftig ist, unabhängig davon, ob es sich um eine Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit handelt oder um einen Eingriff in diese. Beides dürfte kaum abgrenzbar sein: Jede Ausgestaltung ist auch eine Begrenzung, da andere Varianten der Ausgestaltung nicht gewählt wurden ("to define is to limit"). Auch bei der Ausgestaltung sind demnach die grundrechtlich geschützten Interessen der Betroffenen in einen verhältnismäßigen verfassungsrechtlichen Ausgleich zu setzen. Eine Ausgestaltung, die den Spartengewerkschaften die Luft zum Atmen nimmt, wäre ohne hinreichende Rechtfertigung auch als Ausgestaltung verfassungswidrig.
Viele sehen diese Rechtfertigung als nicht gegeben an. Zählt man die Stimmen, ohne sie zu wiegen, so sind diese klar in der Überzahl. Die Mittel, mit denen der Entwurf seine Verfassungskonformität zu sichern sucht, sind jedenfalls absurd: Ein einklagbares Recht der Minderheitsgewerkschaft, ihre Forderungen mündlich vortragen zu dürfen (§ 4 Abs. 5 des Entwurfs des Tarifvertragsgesetzes), ist genauso funktionslos, wie das Recht einer Gewerkschaft, den von ihr nicht mit beeinflussten Tarifvertrag, zu dem sie ja in Konkurrenz agiert hat, eins zu eins nachzuzeichnen (§ 4 Abs. 4 des Entwurfes). Welche Gewerkschaft, die etwas auf sich hält, würde sich auf solche Rechte berufen?
Eine Alternative: Anderer Bezugspunkt für das Mehrheitssystem
Die verfassungsrechtlichen Probleme lassen sich deutlich entschärfen, wenn man einen Weg findet, die Konkurrenzen anders aufzulösen, ohne die Spartengewerkschaften strukturell zu benachteiligen. Eine Möglichkeit wäre es, das Mehrheitssystem nicht am Betrieb ansetzen zu lassen, sondern am sich überschneidenden Bereich: Es würde sich im Bereich der Überschneidung der Tarifvertrag der Gewerkschaft durchsetzen, die in der Personengruppe, für die beide Gewerkschaften tätig geworden sind, die meisten Mitglieder hat. Weil hierin aber eine strukturelle Bevorzugung von Spartengewerkschaften liegen würde (die in Sparten tendenziell besser organisieren können), sollte im Gegenzug diese Konkurrenzregelung davon abhängig gemacht werden, dass dieser Überschneidungsbereich eine Mindestgröße der Belegschaft ausmacht, z.B. 15 %.
Damit würden die bisherigen Spartengewerkschaften in ihrem Wirken regelmäßig nicht beeinträchtigt, neue Kleinstgewerkschaften könnten sich jedoch nicht etablieren, weil sie es nicht schaffen, in einem solchen Teil der Belegschaft die Mehrheit zu organisieren. Die Werksfeuerwehr und die Vorfeldlotsten wären ein zu kleiner Teil der Belegschaft, um sich hier gegen eine Gewerkschaft durchzusetzen, die die gesamte Belegschaft repräsentiert. Dieser Ansatz wäre verfassungsrechtlich weitaus unproblematischer als der vorliegende Entwurf und würde das bisherige Gleichgewicht der Gewerkschaften deutlich weniger beeinträchtigen.
Das eigentliche Problem: Die Streiks in der Daseinsvorsorge
Auch dieser Ansatz lässt aber die Probleme des Arbeitskampfes in der Daseinsvorsorge ungelöst. Diese aber bedürfen dringend einer Lösung. Nicht die Geltung mehrerer Tarifverträge im Betrieb ist das zurzeit wohl drängendste Problem, sondern die Vielzahl und die Heftigkeit der Arbeitsniederlegungen in Unternehmen, auf deren Leistungen die Öffentlichkeit in besonderem Maße angewiesen ist. Eben hier müsste eine Regelung ansetzen. Es braucht angemessene Regeln für die Arbeitsniederlegung, die die Drittinteressen in Betrieben der Daseinsvorsorge schützen.
Hierzu gibt es an erprobten Modellen des Auslands orientierte Vorschläge. Andere Länder haben sehr wohl die Notwendigkeit des Handelns erkannt: Wer sich umschaut, der findet Rechtsordnungen mit Ankündigungspflichten, mit Wartezeiten, mit obligatorischen Schlichtungsverfahren, mit detaillierten Regelungen des Notdienstes – all das kann Modell sein. Das wesentliche Problem, dass die Streiks vor allem unbeteiligte Dritte – z.B. die Reisenden –treffen, die nichts zur Lösung des Tarifkonfliktes beitragen können, wird so gelöst oder zumindest erheblich reduziert, ohne dass kleinen Gewerkschaften ihre Verhandlungsfreiheit genommen wird. Ein solcher Ansatz ist verfassungskonform und er adressiert das eigentliche Problem.
Der Ansatz des Gesetzes ist daher zu ergänzen um Regelungen, wie sie der CSU-Vorstand in seinem Beschluss vom Januar 2015 fordert. Darin sind u.a. eine Ankündigungspflicht und ein obligatorischer Schlichtungsversuch vorgesehen. Verfassungsrechtliche Hürden bestehen hier nicht, denn der Schutz der Gemeininteressen ist legitimer Grund staatlichen Handelns. Wie so oft, so gilt auch hier: Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen, um danach zwei Schritte voranzukommen. Der Gesetzgeber sollte nicht den Ehrgeiz haben, ein Gesetz durchzudrücken, das die Probleme nicht wirklich löst und das sich am Ende als verfassungswidrig erweisen könnte. Stattdessen heißt es: Maß halten und das Arbeitskampfrecht in der Daseinsvorsorge behutsam fortentwickeln und dort Leitplanken einziehen, die die Interessen der Allgemeinheit angemessen schützen.
Der Autor Prof. Dr. Gregor Thüsing LL.M. (Harvard) ist Leiter des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit an der Universität Bonn und stellvertretender Vorsitzender der Abteilung Arbeitsrecht beim 70. Deutschen Juristentag in Hannover. Er spricht am 4. Mai 2015 in einer Anhörung des Bundestages als Sachverständiger zum geplanten Tarifeinheitsgesetz.
Gesetz zur Tarifeinheit: . In: Legal Tribune Online, 01.05.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15424 (abgerufen am: 05.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag