Fluglotsen-Gewerkschaft im Fadenkreuz der Justiz: Der "Bum­mel­st­reik" der Beamten

von Martin Rath

14.01.2024

Eine Auseinandersetzung um die Arbeitsbedingungen der deutschen Fluglotsen wurde seit 1973 mit harten Bandagen ausgetragen. Sie führte nicht nur zu zahlreichen Prozessen, auch Generalbundesanwalt und BKA waren mit von der Partie.

Am 16. Januar 1974 brach Bundesanwalt Felix Kaul (1920–2013) einen aus Sicht des Generalbundesanwalts einigermaßen unglücklich ablaufenden Ermittlungsvorgang gegen führende Vertreter der Fluglotsen-Gewerkschaft, des Verbands Deutscher Flugleiter e.V. (VDF), ab.

Die Sache hatte, wie es in der Geschichte dieser Behörde nicht ganz selten vorkommt, eine etwas merkwürdige Wendung genommen.

Anlass für die Ermittlungen war ein Arbeitskampf, ausgelöst durch Unmut über Mängel in der deutschen Luftfahrt und die im internationalen Vergleich weit unterdurchschnittlichen Arbeitsentgelte.

Zwischen dem 31. Mai und 23. November 1973 war eine große Zahl westdeutscher Fluglotsen in einen "Bummelstreik" getreten, was den zivilen Flugverkehr empfindlich beeinträchtigte.

50.000 Starts und Landungen fielen aus, 80.000 Flugzeuge konnten nur mit Verspätung starten. Um diese Zahlen einzuordnen: In Frankfurt am Main, bereits damals das zentrale Luftverkehrskreuz, gab es im Jahr 1973 rund 200.000 Flugbewegungen, im jüngsten Spitzenjahr 2019 waren es über 500.000.

Aus geschäftlichen oder privaten Gründen zu fliegen war seinerzeit also noch nicht derart schamlos normal wie heute. Vor allem aber: von jenen, die sie aufhalten konnten, trafen die Fluglotsen einen beachtlichen Teil.

Zu viel Arbeit, zu wenig Geld

Mit dem "Bummelstreik" wollten diese für die polizeiliche Ordnung am Himmel zuständigen Beamten nicht allein Kritik an ihrer Besoldung üben, die sie mit Blick auf ihre Verantwortung als unzureichend empfanden. Ihre Kollegen in anderen westlichen Ländern kamen teils auf doppelt so hohe Dienstbezüge. Sie sahen sich auch in einem kaum noch zu vertretenden Maß mit Arbeit ausgelastet.

In zeitgenössischen Berichten heißt es etwa, dass ein einzelner Beamter in Frankfurt am Main die Abflugkontrolle für bis zu zwölf Flüge gleichzeitig zu verantworten hatte, während Arbeitsmediziner das zulässige Limit bei vier Flügen sahen, wenn man nicht auf Dauer Stress-Schäden erleiden und die Flugsicherheit aufs Spiel setzen wollte. Mit der technischen Ausstattung und regulativen Gestaltung der zivilen Luftverkehrssicherheit war man auch nicht unbedingt glücklich.

Als Beamte im Dienst der nicht rechtsfähigen Bundesanstalt für Flugsicherung im Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr standen aber den Fluglotsen die gewöhnlichen Arbeitskampfmittel von abhängig Beschäftigten nicht zu – auch und erst recht nach der damaligen koalitions- und beamtenrechtlichen Doktrin zu Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG).

Statt den offenen Streik zu suchen, wählten viele Fluglotsen daher einen Dienst nach eng verstandener Vorschrift ("go slow") oder meldeten sich dienstunfähig ("sick out").

Rund zweieinhalb Millionen verärgerter Fluggäste, die damals mehr als heute Teil der gehobeneren sozialen Schichten waren, sowie im Umsatz geschädigte Luftverkehrs- und von ihnen abhängige Unternehmen am Boden waren die Folge.

Entsprechend verhielt sich die Bundesregierung unter Willy Brandt (1913–1992), in der juristischen Nachbearbeitungsphase seit 1974 gefolgt von Helmut Schmidt (1918–2015), jedenfalls in der Öffentlichkeit unnachgiebig – während sie nicht zuletzt die Behörde von Generalbundesanwalt Ludwig Martin (1909–2010) etwas im Dunkeln tappen ließ, weil sie parallel ihre Kontakte zum gewerkschaftlichen Milieu nutzte.

Ermittlungsarbeit im Rahmen politischer Opportunitäten?

Es blieb nicht bei Klagen der geschädigten Luftverkehrsunternehmen gegen die Bundesrepublik Deutschland oder beim disziplinarrechtlichen Zugriff auf die pflichtsäumigen Fluglotsen. 

Während der Bundesverkehrsminister mit Erfolg hinter den Kulissen einen diskreten Interessenausgleich mit dem Verband Deutscher Flugleiter e.V. suchte – der Bummelstreik wurde im November 1973 weitgehend beendet –, hatte der Generalbundesanwalt Anfang August 1973 ein Ermittlungsverfahren wegen Erpressung und Nötigung eines Verfassungsorgans, §§ 253, 106 Strafgesetzbuch (StGB), eingeleitet und nach § 100a Strafprozessordnung (StPO) die richterliche Anordnung erwirkt, die Telefonanschlüsse des Flugleiter-Verbands und seiner führenden Vertreter heimlich überwachen zu dürfen.

Am 14. Dezember 1973 brach jedoch das Bundeskriminalamt (BKA) die Telefonüberwachung zunächst ab. Auch aus den abgehörten Telefonaten hatte sich wohl ergeben, dass die führenden Fluglotsen-Gewerkschaftsleute darauf hinzuwirken versuchten, weitere Bummelstreik-Aktionen zu verhindern.

Doch nahmen die BKA-Beamten die Telefonüberwachung am 14. Januar 1974 wieder auf, denn am Tag danach sollten die Büro- und Privaträume des Verbands und seines Führungspersonals durchsucht werden.

Bevor es dazu kam, stellte sich heraus, dass der Vorstand der Fluglotsen-Gewerkschaft vor der Durchsuchung gewarnt worden war – mit einiger Wahrscheinlichkeit aus dem Bundesinnenministerium. Am 16. Januar 1974 brach Bundesanwalt Kaul die Abhöraktion ab. Aufgezeichnet worden waren zwischen dem 23. November und 14. Dezember 1973 immerhin über 1.400 Gespräche, davon gut 600 private Telefonate.

Es lag sichtlich nicht im Interesse der Bundesregierung, den Bummelstreik der verbeamteten Fluglotsen auch strafrechtlich eskalieren zu lassen, sie teilte das der Karlsruher Ermittlungsbehörde aber offenbar nur sparsam mit. Die erst Jahre danach bekannt gemachte Telefonüberwachung wurde daher in der Presse später sogar mit der offen illegalen Abhöraktion gegen den kritischen Kernkraft-Manager Klaus Traube (1928–2016) in Verbindung gebracht.

Ein bunter Strauß weiterer juristischer Anliegen und Probleme

Disziplinarrechtlich wurde nicht gegen alle am Bummelstreik beteiligten Beamten harsch durchgegriffen – schließlich mussten die hoch qualifizierten Mitarbeiter der Flugsicherung halbwegs bei Laune gehalten werden.

Anders als im Fall eines regulär von einer Gewerkschaft abhängig beschäftigter Arbeiter oder Angestellter geführten Streiks hatten die Beamten in der Flugsicherung mit den klandestin-informellen Mitteln "Dienst nach Vorschrift" und "Krankmeldung" den Betrieb behindert. Damit war auch die rustikal-kriegerische Doktrin des deutschen Arbeitsrechts verletzt, wonach kollektive Konflikte ritterlich mit offenem Visier auszutragen sind – vom beamtenrechtlichen Streikverbot gar nicht zu reden.

Entsprechend war die – teils scharfe – disziplinarrechtliche Maßregelung der VDF-Verantwortlichen schon deshalb erfolgt, weil die Fluglotsen-Gewerkschaftsfunktionäre, selbst Beamte, mit ihrer Pressearbeit die streikähnlichen Aktionen unterstützt und damit "die für die Funktion des Beamtenverhältnisses unabdingbaren Pflichten zur vollen Hingabe an seinen Beruf, zur Wahrung des in seine Zuverlässigkeit gesetzten Vertrauens der Allgemeinheit und der Verwaltung" verletzt hatten.

Diese Pressearbeit wurde als Gehilfentätigkeit gesehen, die auch zur zivilrechtlichen Haftung führte.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) bestätigte mit Beschluss vom 7. Juni 1978, knapp fünf Jahre nach den Vorgängen, im Fall eines VDF-Funktionärs die vorläufige Entfernung aus dem Dienst und Kürzung der Dienstbezüge um 50 Prozent (Az. 1 DB 13.78). Beamte, die sich lediglich mit dem Streik "solidarisiert" hatten, kamen hingegen mit deutlich milderen Sanktionen davon, wie ein ausführliches, die Situation im Flugsicherungsbetrieb detailliert analysierendes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 1978 (Az. 1 D 82.77) darstellt. Hier blieb es bei einer auf zwei Jahre befristeten Kürzung der Dienstbezüge um zehn Prozent.

Die Bundesrepublik verlangte auch zivilrechtlich vom Verband Deutscher Flugleiter e.V. Schadensersatz. Mit Urteil vom 31. Januar 1978 befand der Bundesgerichtshof (BGH), dass die streikähnliche Aktion im Jahr 1973 die Regeln eines fairen Arbeitskampfes verletzt habe, nach Form und Ausmaß sittenwidrig war, so dass Schadenersatz nach § 826 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) verlangt werden konnte (Az. VI ZR 32/77).

Weil die Gerichte die Vermögenseinbußen gewöhnlicher Flugreisender anfangs als unbedeutend angesehen hatten – mit Verspätungen oder Ausfällen habe man stets zu rechnen –, war die Bundesrepublik vor allem mit Forderungen unternehmerischer Akteure, einschließlich der weitgehend staatseigenen Lufthansa, konfrontiert worden. Im Rahmen außergerichtlicher Absprachen wurden dem VDF jedoch letztlich keine Schadensersatzleistungen abverlangt, die seine Existenz vernichtet hätten. Die Gewerkschaft erstattete dem Bund nur 1,5 Millionen Deutsche Mark.

Der letzte Versuch der Fluglotsen-Gewerkschaft, nicht als Gehilfe des Bummelstreiks von 1973 in Haftung genommen zu werden, richtete sich, wie Recht und Sitte in Deutschland verlangen, an das Bundesverfassungsgericht. Dieses nahm die auf Art. 5 und 9 GG gestützte Verfassungsbeschwerde durch Beschluss vom 2. Juli 1979 jedoch gar nicht erst zur Entscheidung an (Az. 1 BvR 335/78).

Hinweis: Eine sehr schöne, für Laien interessante wie für juristische Fachleute beachtliche Darstellung der zivilrechtlichen Probleme, aber auch der politischen Fallstricke des Fluglotsenstreiks findet sich in Roland Dubischar: "Prozesse, die Geschichte machten. Zehn aufsehenerregende Zivilprozesse aus 25 Jahren Bundesrepublik". München (Beck) 1997, S. 1–20.
 

Zitiervorschlag

Fluglotsen-Gewerkschaft im Fadenkreuz der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 14.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53624 (abgerufen am: 04.11.2024 )

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