Verdacht des sexuellen Übergriffs gegen Lindemann ist rechtswidrig: Die Tücke mit der Erin­ne­rungs­lücke

von Dr. Max Kolter

12.09.2024

In der SZ schilderten zwei Frauen ihre sexuellen Erlebnisse mit Till Lindemann. Das OLG Frankfurt untersagte der SZ nun den Verdacht zu verbreiten, der Rammstein-Sänger habe Sex ohne Zustimmung mit einer der Frauen gehabt.

Anfang Juni 2023 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung (SZ) den Artikel "Am Ende der Show". Darin ging es um das Sex-Casting-System der Band Rammstein im Zusammenhang mit Konzerten. Vorausgegangen war eine gemeinsame Recherche von SZ, WDR und NDR. Ihre Berichte waren die ersten über das Sex-Casting, nachdem die Irin Shelby Lynn auf Instagram über ihre Erlebnisse auf einem Rammstein-Konzert berichtet hatte. Die Folge waren nicht nur zahlreiche Medienberichte, sondern auch strafrechtliche Ermittlungen gegen Lindemann, die die Staatsanwaltschaft Berlin aber nach einigen Wochen mangels hinreichenden Verdachts einer Straftat einstellte.

Die MeToo-Berichterstattung einiger Medien war Gegenstand von presserechtlichen Verfügungsverfahren. Lindemann, dabei stets vertreten von Simon Bergmann, beanstandete dabei, die Berichte erweckten ohne hinreichende Belege den Verdacht, dass er mit einzelnen Frauen ohne Einwilligung Geschlechtsverkehr gehabt habe – was als sexueller Übergriff oder gar als Vergewaltigung strafbar wäre. So auch im Fall des SZ-Artikels "Am Ende der Show".

Hier kamen mit Cynthia A. und Kaya R. (Namen von der SZ geändert) zwei Frauen zu Wort, die ihre intimen Erlebnisse mit Till Lindemann schilderten. Lindemann sah in beiden Fällen eine rechtswidrige Verdachtsberichterstattung und ging vor dem Landgericht (LG) Frankfurt am Main gegen den Artikel vor. Dieses wies den Unterlassungsantrag im September 2023 vollumfänglich zurück (Urt. v. 06.09.2023, Az. 2-03 O 306/23). Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main änderte jetzt das Urteil mehr als ein Jahr später – noch immer im Eilverfahren – ab und gab Lindemann in einem Fall Recht (Urt. v. 11.09.2024, Az. 16 U 122/23). Die Kaya R. betreffenden Passagen muss die SZ nun anpassen. Bezüglich Cynthia A. lehnte das Gericht den Unterlassungsantrag jedoch ebenfalls ab.

Erinnerungslücke kann Verdacht erwecken, aber nicht belegen

Dieses Ergebnis hatte sich bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem OLG Ende August abgezeichnet – auch wenn wegen einer Prozesshandlung von Lindemanns Anwalt Bergmann in der Schwebe hing, ob das Gericht den Antrag insgesamt für unzulässig erklären würde.

Wie LTO ausführlich berichtete, hatte der Vorsitzende Richter des Pressesenats, Dr. Peter Bub, deutlich gemacht: In Bezug auf Kaya R. erwecke der Bericht den Verdacht, Lindemann habe Sex mit ihr ohne ihre Einwilligung gehabt. Und der SZ habe nicht der für eine solche Verdachtsberichterstattung erforderliche Mindestbestand an Beweistatsachen vorgelegen. Was Cynthia A. betrifft, werde dagegen bereits gar kein entsprechender Verdacht erweckt.

Dies bestätigen nun die LTO vorliegenden Entscheidungsgründe. Die Schilderungen von Kaya R. verstehe der Durchschnittsleser dahingehend, dass Lindemann möglicherweise unter Ausnutzung ihrer Alkoholisierung sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen habe. Sie schildert in der SZ, dass sie viel Alkohol getrunken habe. Wie sie in ein Hotelzimmer gekommen sei, wisse sie nicht mehr, sie sei nicht mehr bei Bewusstsein gewesen. Beim Aufwachen sei "Till auf mir drauf" gewesen. Lindemann habe dann gefragt, ob er aufhören solle – und zwar als er gemerkt habe, dass sie wach geworden sei. Sie aber habe nicht einmal gewusst, womit er aufhören solle. Er sei dann irgendwann gegangen, heißt es in dem Artikel.

Auch wenn Kaya R. somit gar nicht äußerte, dass es überhaupt zu Sex mit Lindemann kam, werde ein entsprechender Verdacht erweckt. Denn diese Schilderung lege "dem Leser die Möglichkeit nahe", dass Lindemann "die sexuelle Handlung an ihr ohne ihre Zustimmung begonnen hat, nämlich während sie bereits ihr Bewusstsein verloren hatte oder so stark eingeschränkt war, dass sie keinen Willen bilden konnte". Die Darstellung der Erinnerungslücke verhindert nach Auffassung des Gerichts also nicht, dass ein Verdacht erweckt wird.

Was den Mindestbestand an Beweistatsachen angeht, so schadete Kaya R.'s Erinnerungslücke der SZ. Denn diese lässt laut OLG auch die Möglichkeit zu, "dass beide einverständlich Sex begonnen haben, [Kaya R.] aber später alkoholbedingt das Bewusstsein verloren oder im Zusammenhang damit einen sog. 'Filmriss' erlitten hat, der ihre Erinnerungen auch rückwirkend beseitigt hat". Die den Schilderungen im Artikel entsprechende eidesstattliche Versicherung von R. reichte dem Senat daher als Mindestbeleg für einen derart schwerwiegenden Verdacht nicht aus.

Rechtsbegriff ist nicht immer Rechtsbegriff

Bei Cynthia A. liegt der Fall nach Auffassung der Richter anders. Ihre Äußerungen in dem Artikel erweckten bereits nicht den Verdacht der Vornahme sexueller Handlungen gegen ihren Willen. Sie schildert, dass ihr bekannt gewesen sei, dass es beim Rammstein-Casting darum gegangen sein, eine Person zu finden, die "eine Nacht mit Till" verbringen würde. Sie gab zwar an, Sex mit Lindemann gehabt zu haben, den sie als unangenehm und "ziemlich gewaltvoll" empfunden habe. Jedoch wird sie zugleich mit den Worten zitiert: "Ich will nicht sagen, dass das eine Vergewaltigung war, weil ich ja zugestimmt habe."

Ihre Schilderung, dass sie während des Geschlechtsverkehrs Schmerzen gehabt habe und Lindemann aufgefallen sein müsse, "dass es nicht leicht war, mit mir zu schlafen", verstehe der Leser auch nicht als konkludenten Widerruf ihrer Einwilligung. Maßgeblich dafür war wiederum ein anderes Zitat von Cynthia A., sie habe Lindemann nicht sagen wollen, dass es weh tut, "weil es war ja Till Lindemann". "Damit wird deutlich, dass sie die weitere Ausübung der sexuellen Handlungen des Klägers hingenommen" habe, so das Gericht.

Dabei schadete der SZ auch nicht, dass in dem Artikel zweimal – einmal davon prominent im Teaser – von "sexuellen Übergriffen" an "zahlreichen Frauen" die Rede ist. Zwar ist "sexueller Übergriff" auch ein Rechtsbegriff und seit der Reform des Sexualstrafrechts 2016 ein eigener Straftatbestand (§ 177 Strafgesetzbuch, StGB), der damit jede sexuelle Handlung an einer Person ohne oder gegen deren Willen unter Strafe stellt. 

Jedoch sei der Bedeutungsgehalt des Begriffs im Gesamtkontext des Artikels erkennbar ein anderer, so das OLG. Die von Cynthia A. aus eigener Wahrnehmung geschilderten Erlebnisse ergäben eben nicht, dass es zu nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlungen kam. Vielmehr sei aus Lesersicht naheliegend, dass der Sex für Cynthia A. wegen der anwendeten Gewalt und ihrer eigenen Verkrampftheit ein "Übergriff" gewesen sei. Und andere sexuelle Handlungen als die von ihr und Kaya R. berichteten – solche, die womöglich einen strafbaren Übergriff darstellen könnten – kommen in dem Artikel nicht vor.

Verlegt ist nicht verloren

Weder diese rechtliche Würdigung noch ihre Begründung dürften die Prozessbeteiligten überraschen. Unklarheit bestand nach Ende der mündlichen Verhandlung allerdings darüber, ob das OLG den Unterlassungsantrag gänzlich als unzulässig zurückweisen würde. 

Grund dafür war ein Antrag von Lindemanns Anwalt Bergmann auf Verlegung des Verhandlungstermins in der ersten Instanz. Damit habe Bergmann gezeigt, dass es Lindemann nicht eilig mit der Entscheidung gewesen sei, hatte SZ-Anwalt Dr. Martin Schippan argumentiert. Die Eilbedürftigkeit ist nach § 935 Zivilprozessordnung eine notwendige Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Allerdings wird sie grundsätzlich vermutet. Ob ein Terminverlegungsantrag allein ausreicht, um die Eilbedürftigkeit entfallen zu lassen, ist fraglich. 

Der Senat hatte Schippans Argument ernst genommen, sich zur Beratung zurückgezogen und danach angedeutet, dass ein solches Prozesshandeln im Eilverfahren des gewerblichen Rechtsschutzes sofort zur Unzulässigkeit führe. Nun entschied der Senat aber zugunsten von Lindemann.

Zwar betonte das Gericht, dass Anträge auf Fristverlängerung oder Terminverlegung regelmäßig "dringlichkeitsschädlich" seien. Jedoch komme es stets auf den Einzelfall an, wobei die Zeitdauer der beantragten Verlegung und die Begründung des Antrags zu berücksichtigen seien. Vorliegend hatte Bergmann beim LG Frankfurt beantragt, den Termin im August 2023 um drei Tage zu verschieben. Als Grund hatte er angegeben, erst zwei Tage vor dem geplanten Termin von einem 36-seitigen Schriftsatz Schippans Kenntnis erlangt zu haben, womit Bergmann nur ein Tag verblieb, einen Erwiderungsschriftsatz abzufassen und ans Gericht zu schicken. Zwar hätte Bergmann auch den geplanten Verhandlungstermin abwarten und dort einen Schriftsatznachlass beantragen können. Allerdings hätte dies das Verfahren ebenfalls verzögert.

Die Entscheidung des OLG ist unanfechtbar. Damit muss die SZ die Kaya R. betreffenden Passagen nun so anpassen, dass sie nicht mehr den Verdacht erwecken, Lindemann habe ohne ihr Einverständnis sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen. Da beide Parteien jeweils hälftig gewonnen und verloren haben, könnten sie insofern jeweils eine Klärung in Karlsruhe anstreben. Dies wäre allerdings nur im Hauptsacheverfahren möglich, wobei zunächst erneut die Frankfurter Gerichte und erst dann der Bundesgerichtshof zuständig wären.

Zitiervorschlag

Verdacht des sexuellen Übergriffs gegen Lindemann ist rechtswidrig: . In: Legal Tribune Online, 12.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55388 (abgerufen am: 13.09.2024 )

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