Nach der tagesschau muss nun auch das ZDF heute-journal eine Niederlage wegen einer interpretierenden Übernahme der Correctiv-Recherche zum Treffen in Potsdam einstecken. Es geht um Aussagen über Pläne zur Ausweisung deutscher Staatsbürger.
Das Landgericht (LG) Hamburg hat dem ZDF per einstweiliger Verfügung Äußerungen über die Correctiv-Recherche zum Potsdamer Treffen von rechten Politikern und Rechtsextremen untersagt (Besch. v. 20.10.2024, Az. 324 O 439/24). Antragsteller war der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau, selbst Teilnehmer des Treffens.
Der Correctiv-Artikel "Geheimplan gegen Deutschland" wurde am 10. Januar 2024 veröffentlicht und von zahlreichen Medien national und international aufgenommen. Noch am gleichen Tag berichtete auch das ZDF heute journal. In der Anmoderation des Beitrags sprach Moderatorin Marietta Slomka unter anderem davon, dass laut Correctiv-Bericht, "die Deportation von Millionen Menschen, auch solcher mit deutscher Staatsbürgerschaft", geplant sei. Im anschließenden Beitrag hieß es dann, es sei auf dem Treffen um die Idee gegangen, auch Menschen mit deutschem Pass abzuschieben.
Unwahre Tatsachenbehauptung oder zulässige Meinungsäußerung?
Der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau hält beide Äußerungen für unwahre Tatsachenbehauptungen und nahm das ZDF, vertreten durch Rechtsanwalt Carsten Brennecke (Höcker Rechtsanwälte), auf Unterlassung in Anspruch. Nachdem sich das ZDF weigerte, eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben, zog Vosgerau vor das LG Hamburg. Dort argumentierte Anwalt Brennecke, der Begriff der "Deportation" sei inhaltlich eindeutig belegt, nämlich als zwangsweise Ausweisung gegen den Willen des Betroffenen unter Anwendung staatlichen Zwangs. Sellners in Potsdam vorgestellter Plan würde aber keine Deportation deutscher Staatsbürger vorsehen. Er verwies zudem auf eidesstattliche Versicherungen von Vosgerau und anderen Teilnehmern, nach denen auf dem Treffen nicht über die Ausweisung deutscher Staatsbürger diskutiert wurde.
Das ZDF, vertreten durch Rechtsanwalt Michael Fricke (CMS Hasche / Sigle), verteidigte die Aussagen als zulässige Meinungsäußerungen. Es handele sich um eine "wertende Zuspitzung" und "wertende Zusammenfassung" des Gegenstands von Sellners Plan und um eine "subjektive Einschätzung der Moderatorin". Es sei unstreitig, dass Sellners Pläne auch die Vertreibung deutscher Staatsbürger beinhalteten und dies auf dem Treffen besprochen worden sei. Wenn Correctiv von "Vertreibung" sprechen dürfe, könne das ZDF auch von "Deportation" sprechen. Es sei nicht zu erkennen, warum die eine Meinung zulässig sei und die andere nicht.
Landgericht sieht falsche Tatsachenbehauptungen
Das LG Hamburg gab indes Vosgerau recht. Der Durchschnittsrezipient entnehme den ZDF-Äußerungen die Tatsache, dass die Deportation auch von Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit Teil des vorgestellten "Masterplans" gewesen sei. Dies sei prozessual unwahr. Das ZDF habe nicht glaubhaft gemacht, dass auf dem Treffen in Potsdam tatsächlich ein solcher "Masterplan" präsentiert worden sei. In einem Gerichtsverfahren ebenfalls vor dem LG Hamburg (Az. 324 O 61/24) hatte Correctiv selbst erklärt, dass es "zutreffend" sei, dass "die Teilnehmer*innen nicht über eine rechts-, insbesondere grundgesetzwidrige Verbringung oder Deportation deutscher Staatsbürger gesprochen haben."
Allerdings legte die Berichterstattung von Correctiv genau das durchaus nahe. So heißt es dort am Ende resümierend, es sei in Potsdam um einen "Masterplan zur Ausweisung deutscher Staatsbürger" gegangen. An anderer Stelle im Correctiv-Bericht ist von der "Sache mit der Ausbürgerungsidee von Staatsbürgern in Sellners Vortrag" die Rede.
Neben dem ZDF entnahmen viele andere Medien und User auf Social Media dem Correctiv-Bericht, es sei dort um geplante Massendeportation auch von Deutschen gegangen. So schrieb etwa auch der NDR (tagesschau.de), dass in Potsdam über die Ausweisung deutscher Staatsbürger diskutiert wurde und musste für diese interpretierende Einordnung eine gerichtliche Niederlage vor dem Oberlandesgericht Hamburg einstecken (LTO berichtete).
Zwischen Staatsrechtler Vosgerau und Correctiv besteht allerdings in einem Punkt Einigkeit: Bei den entsprechenden Aussagen im Correctiv-Bericht soll es sich um nicht angreifbare Meinungsäußerungen handeln. Entsprechend griff Vosgerau die Correctiv-Berichterstattung selbst auch nur in Nebenaspekten an (LTO berichtete). Vor dem LG Hamburg trug er durch Anwalt Brennecke vor, das ZDF habe "genau die Grenzen überschritten, die der Correctiv-Bericht gerade noch gewahrt hat". Anders als Correctiv verbreite das ZDF falsche Tatsachenbehauptungen.
Correctiv-Bericht selbst widersprüchlich
Warum aber darf Correctiv von einem "Masterplan zur Ausweisung deutscher Staatsbürger" schreiben, das ZDF aber nicht sagen, dass es in Potsdam um Deportation auch deutscher Staatsbürger gegangen sei? Correctiv könnte hier zugutekommen, dass Äußerungen immer im Kontext des Berichts auszulegen sind. Wer den gesamten Correctiv-Bericht aufmerksam liest, stellt fest, dass Sellner dort Ausweisungen bzw. Deportationen deutscher Staatsbürger gerade nicht als Mittel vorstellt. Vielmehr propagiert er die ebenfalls rechtsextreme Idee, die nicht assimilierten Deutschen sollten durch Druck und maßgeschneiderte Gesetze dazu gebracht werden, das Land zu verlassen.
Ein solcher aufmerksamer Leser wird dann zwar verdutzt sein, wenn Correctiv ihm am Ende ein Ergebnis ("Masterplan zur Ausweisung deutscher Staatsbürger") präsentiert, das von den Tatsachenschilderungen gar nicht gedeckt ist. Er wird dies aber möglicherweise als überspitztes Resümee auffassen. Gleiches gilt aber nicht für Fernsehbeiträge oder Anmoderationen, in denen Sellners Plan in dieser Hinsicht gar nicht detailliert geschildert wird und somit beim Zuschauer auch kein anderweitiger Vorstellungshorizont entstehen kann.
Ob angesichts der eklatanten Widersprüchlichkeit zwischen Tatsachenschilderung und Resümee auch der Correctiv-Bericht Unwahrheiten verbreitet, weil der dargestellte aufmerksame Leser, der den Beitrag unter Berücksichtigung des Kontext sezierend auseinandernimmt, nicht der Durchschnittsleser ist, musste das LG im ZDF-Verfahren nicht klären. Denn selbst wenn auch Correctiv die Behauptung aufgestellt hätte, es sei in Potsdam um Ausweisungspläne gegen deutsche Staatsbürger gegangen, dürfte das ZDF dies nicht einfach übernehmen. Denn andere Medien sind im Gegensatz zu Nachrichtenagenturen keine privilegierte Quelle, deren Informationen ohne eigene Überprüfung übernommen werden können.
LG: Auch ohne namentliche Nennung ist Vosgerau erkennbar
Auch den Einwand des ZDF, Vosgerau sei in der Berichterstattung nicht erkennbar, da er im ZDF- im Gegensatz zum Correctiv-Bericht nicht namentlich erwähnt werde, ließ das LG nicht durchgreifen. Zwar hatte es in dem oben zitierten tagesschau-Verfahren selbst noch diese Ansicht vertreten. Doch das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg kassierte diese Einschätzung. Nun schloss sich das LG dem OLG an.
Vosgerau sei erkennbar, weil der Correctiv-Bericht im Beitrag mehrfach erwähnt werde und dies dazu führe, dass Vosgerau identifiziert werden könnte. Dies unterscheide sich von dem Fall, dass User aufgrund von Angaben in einem Beitrag die Identität recherchierend ergoogeln können. Dabei geht die überwiegende Rechtsprechung davon aus, dass die zur Identität führende Internetrecherche einem Medium nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn es selbst sorgsam anonymisiert hat. Doch hier liege der Sachverhalt anders, so das LG. Denn das ZDF heute journal habe durch Bezugnahme auf den Correctiv-Artikel den Zuschauer "selbst darauf aufmerksam gemacht, wie er Teilnehmer mühelos ermitteln kann".
Heißt im Umkehrschluss: Hätte das ZDF Correctiv nicht namentlich genannt, sondern nur von einem Recherche-Portal gesprochen, wäre die Betroffenheit Vosgeraus wohl verneint worden.
Rechtsprechung im Widerspruch zu journalistischen Sorgfaltspflichten?
Im Prozess verwies ZDF-Vertreter Michael Fricke vergeblich darauf, dass diese Rechtsprechung den journalistischen Sorgfaltspflichten widerspreche, die die Nennung der Quellen gerade gebiete. Sein anwaltlicher Gegenspieler Brennecke trug hingegen vor, dass die Angaben im ZDF-Bericht so konkret seien, dass sie "quasi einer Verlinkung" gleichstünden. Im Übrigen sei Vosgerau für all diejenigen erkennbar, die am Tag identifizierende Berichte in anderen Medien gelesen hätten, nicht zuletzt den “reichweitenstarken” Correctiv-Bericht.
Auch mit einem weiteren Argument konnte das ZDF das LG nicht überzeugen. Zumindest im Rahmen der tagesaktuellen Nachrichtenberichterstattung, in der den Medien eigene Nachrecherchen aus Zeitgründen in aller Regel nicht möglich sind, müsse es Medien möglich sein, anonymisiert unter Bezugnahme der Quelle zu berichten. Andernfalls sei eine seriöse, die Quellen offenlegende, aktuelle Berichterstattung über Rechercheergebnisse Dritter praktisch nicht möglich.
Das LG entgegnet im Beschluss, dass der Einwand nicht verfange, da die unwahre Tatsachenbehauptung nicht etwa später geändert wurde, sondern “viele weitere Monate im Internet vorgehalten worden ist.”
So könnte das Verfahren zum BGH kommen
Das ZDF könnte nun Widerspruch einlegen. Dann entschiede das LG durch Urteil mit dem erwartbaren Ausgang pro Vosgerau. Anschließend könnte das ZDF Berufung zum OLG Hamburg einlegen. Dies wäre dann aber die letzte Instanz im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Will das ZDF, angesichts der klaren Linde des OLG zur Betroffenheit von Vosgerau, den Bundesgerichtshof mit der Sache beschäftigen, müsste es Vosgerau zur Hauptsacheklage auffordern. In einem Hauptsacheverfahren wäre dann die Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH möglich.
Anlass hierfür könnten berechtigte Zweifel des ZDF an der Erkennbarkeit Vosgeraus sein. Allerdings: Da selbst Correctiv im Nachgang erklärt hat, dass auf dem Potsdamer Treffen nicht über die Deportation von deutschen Staatsbürgern gesprochen wurde, sollte es sich das ZDF zweimal überlegen, ob es weiter für die Zulässigkeit der Veröffentlichung der angegriffenen Aussagen kämpfen sollte.
Dies ließe sich mit dem Ziel rechtfertigen, höchstrichterlich klären zu wollen, wann es mit der Presse- und Rundfunkfreiheit vereinbar ist, einer im Beitrag gar nicht genannten Person gleichwohl Unterlassungsansprüche zuzusprechen, nicht aber mit dem Ziel, die Aussagen wieder online zu stellen. Denn falsche oder auch nur irreführende Aussagen gefährden unabhängig von der Frage, ob hierdurch Persönlichkeitsrechte Dritte verletzt werden, das Hauptziel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, nämlich die freie Meinungsbildung zu ermöglichen, sondern führen im Gegenteil zu einer Verfälschung des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses.
LG Hamburg gibt Staatsrechtler Vosgerau Recht: . In: Legal Tribune Online, 05.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55793 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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