Nach einer Vergewaltigung, an der auch Zwölfjährige beteiligt gewesen sein sollen, diskutiert man die Absenkung des Strafmündigkeitsalters. Die Union will bei schweren Verbrechen künftig ggf. auch jüngere Kinder bestrafen lassen.
Immer wenn sich herausstellt, dass bei schweren Gewaltverbrechen auch Kinder unter 14 Jahren beteiligt waren, findet in Deutschland ein Ritual statt. Zumeist konservative Juristen fordern dann die Absenkung des aktuellen Strafmündigkeitsalters. So war es im Jahr 2010, als eine 83-jährige Rentnerin in München von zwei 13-Jährigen stundenlang misshandelt wurde. Und so war es auch im Sommer 2019, als eine junge Frau mutmaßlich auch von Kindern unter 14 in Mülheim vergewaltigt wurde.
Während bisher entsprechende Forderungen nach Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze zumeist nach empörten Reaktionen vor allem aus der Rechtswissenschaft innerhalb kurzer Zeit im Sande verlaufen sind, könnte es nun ernst werden: In dieser Woche hat die CSU-Landesgruppe im Bundestag beschlossen, dass jedenfalls bei "schweren Gewaltverbrechen" künftig auch Kinder unter 14 Jahren ggf. strafrechtlich sanktioniert werden sollen. Derzeit gelten diese nach § 19 Strafgesetzbuch (StGB) als schuldunfähig. Strafrechtliche Sanktionen nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) sind erst ab dem 14.Lebensjahr möglich. Aus der Schwesterpartei CDU gibt es nunmehr erste Signale der Zustimmung.
In dem Beschluss der CSU-Landesgruppe, wie er auf der am Mittwoch zu Ende gegangenen Klausurtagung in Kloster Seeon gefasst wurde, heißt es: "Wir müssen auch Täter unter 14 Jahren in einem besonderen Verfahren einzelfallgerecht sanktionieren können." Bei schweren Gewaltverbrechen soll für die Bestrafung "allein die Einsichtsfähigkeit des Täters und die Schwere der Tat entscheidend sein – nicht eine starre Altersgrenze". Mit der Aufhebung der Altersgrenze für schwere Verbrechen sollen laut der CSU-Bundestagsabgeordneten "in besonders schwerwiegenden Fällen auch erzieherische Maßnahmen bis hin zu Konsequenzen beim Sorgerecht" ermöglicht werden.
"Die Altersgrenze von 14 Jahren hat keinen Verfassungsrang"
Gegenüber LTO reagiert nunmehr auch die Schwesterpartei CDU mit Zustimmung. Ihr rechtspolitischer Sprecher im Bundestag, Rechtsanwalt Dr. Jan-Marco Luczak, sagte: "Ich kann mir eine Absenkung des Alters der Strafmündigkeit in bestimmten Konstellationen vorstellen." Bei der Strafmündigkeit, so Luczak, gehe es um die grundlegende Fähigkeit, zwischen richtig und falsch, Gut und Böse zu unterscheiden. "Jedenfalls bei schweren Gewalttaten glaube ich, dass auch ein 13-jähriger dazu in der Lage sein kann." Im Einzelfall müsse das ein Gericht feststellen.
Auf Sympathie stößt der Vorschlag aus der Union inzwischen auch bei Strafrechtlern. So erklärte der Augsburger Hochschullehrer Prof. Dr. Michael Kubiciel auf Twitter: "Letztlich geht es darum sicherzustellen, dass nur Personen bestraft werden, die das Unrecht ihrer Tat einsehen und sich dementsprechend verhalten können." Das Schuldprinzip, so Kubiciel, habe zwar Verfassungsrang, die Altersgrenze von 14 Jahren aber nicht. Der Strafrechtslehrer hält es daher für sinnvoll, "die konkrete Schuldfähigkeit in einem Übergangsbereich forensisch zu klären". Gegenüber LTO erläuterte Kubiciel ergänzend: "Eine - wie in anderen Ländern schon vorhandene - Einzelfallprüfung, ob zum Beispiel ein Dreizehnjähriger genügende geistige Reife besitzt, um ihm eine Straftat zuzurechnen, ist nicht weniger verfassungsrechtlich vertretbar oder mit dem Schuldbegriff kompatibel als eine starre Grenze von 14 Jahren." Allerdings machte Kubiciel auf die Frage aufmerksam, ob bei einer solchen Prüfung der Aufwand nicht so groß sei, "dass das ohnehin schon belastete Kriminaljustizsystem nicht mit einer Vielzahl von Einzelfallprüfungen über Gebühr belastet würde."
Noch scheint die Meinung Kubiciels in Strafrechtskreisen aber eher eine Mindermeinung zu sein: Die allermeisten Strafrechtler und Jugend-Kriminologen, die LTO befragt hat, lehnen eine wie auch immer geartete Absenkung der Strafmündigkeitsgrenze oder eine Art Gleitzone ab.
Letzte Absenkung des Strafmündigkeitsalters im NS-Staat
Der Direktor des kriminologischen Instituts der Universität Köln, Prof. Dr. Frank Neubacher, zeigte sich ob der neuerlichen Forderung im Gespräch mit LTO sogar "befremdet": Es sprächen "gute Gründe dafür", warum der Gesetzgeber mit dem JGG von 1953 das von den Nationalsozialisten zuvor auf 12 Jahre abgesenkte Strafmündigkeitsalter wieder auf 14 Jahre heraufgesetzt hat. Neubacher sagt: "Warum sollte dem Verhalten von unter 14-Jährigen auch strafrechtlich begegnet werden? Ich sehe nicht, was das Strafrecht erreichen könnte, was nicht auch auf anderem Wege erzielt werden könnte, zum Beispiel durch Familiengerichte und Jugendhilfe - abgesehen vielleicht von einer 'Abschreckungswirkung', an die viel zu viele zu Unrecht glauben."
Neubacher mahnte in diesem Zusammenhang, dass sich die gerichtliche Praxis stärker an den Vorgaben des JGG orientieren müsse. Schließlich gelte nach § 3 JGG auch bei einem strafmündigen Jugendlichen (14 bis unter 18 Jahre alt), dass dieser strafrechtlich nur verantwortlich sei, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Die Prüfung, ob eine solche Reife vorliege, werde "in der Praxis nicht immer sorgfältig vorgenommen".
Ähnlich sieht es auch die renommierte Kriminologin Prof. Dr. Theresia Höynck, die in Kassel das "Recht der Kindheit und der Jugend" lehrt und außerdem seit 2010 Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen ist: "Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass eine Senkung der Strafmündigkeitsgrenze zu einem verbesserten Schutz vor Straftaten führen würde."
Sie sagte gegenüber LTO: "Weder die Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik noch neue kriminologische Erkenntnisse noch praktische Bedürfnisse weisen in diese Richtung." Auch eine über eine § 3JGG hinausgehende "Gleitzone" lehnte die Jugendkriminologin ab: "Feste Altersgrenzen im Recht sind Normalität – vom Anspruch auf einen Kindergartenplatz bis zum Rentenalter – und dienen auch der Funktionsfähigkeit des Rechtssystems".
Den CSU-Juristen warf die Hochschullehrerin überdies Unkenntnis der Rechtslage vor: "Wenn im Papier der CSU behauptet wird, Veränderungen der Strafmündigkeitsgrenze könnten 'Konsequenzen beim Sorgerecht' ermöglichen, zeugt dies von wenig sorgfältiger Überlegung. Sorgerechtliche Konsequenzen sind unter familienrechtlichen Gesichtspunkten der Kindeswohlgefährdung unabhängig von strafrechtlichen Altersgrenzen zu prüfen, nicht im Strafverfahren." So gebe es viele andere Bereiche, in denen über bessere Unterstützung von Kindern und Jugendlichen gesprochen werden könne, um Straftaten zu vermeiden, so Höynck. Nur: "Die Strafmündigkeitsgrenze ist dazu kein sinnvoller Ansatzpunkt."
Auch der Potsdamer Strafrechtler und Kriminologe Prof. Dr. Wolfgang Mitsch warnte im Gespräch mit LTO: "Ein 'Strafrecht' für Zwölfjährige kann kein Strafrecht sein. Der Gesetzgeber sollte sich etwas anderes überlegen oder einfach die Rechtslage so lassen, wie sie ist." Der Leipziger Strafrechtler Prof. Dr. Hendrik Schneider sagte, Deutschland sei gut beraten, die Grenze nicht abzusenken. "Präventive Effekte, die mit dem Strafrecht erzielt werden können, sind begrenzt und bestimmt nicht bei Kindern angezeigt", so Schneider zu LTO.
BMJV und Berufsverbände lehnen Änderungen ab
Abzuwarten bleibt, ob die Union mit ihrem Ansinnen alsbald auch das SPD-geführte Bundesjustizministerium kontaktieren wird. Dort sieht man zumindest zum gegenwärtig Zeitpunkt keinerlei Anlass, am gesetzlichen Strafmündigkeitsalter zu rütteln:
"Strafrechtliche Verantwortung setzt einen bestimmten Entwicklungsstand voraus, der bei Kindern unter 14 Jahren regelmäßig nicht gegeben ist. Darüber besteht große Einigkeit in der Wissenschaft", so BMJV-Sprecher Maximilian Kall zur LTO. Schließlich habe der Staat hinreichende Mittel in der Hand, um auch auf Straftaten von Kindern unter 14 Jahren "konsequent und angemessen" reagieren zu können. Kall zufolge enthält etwa das Sozialrecht "vielfältige und differenzierte Leistungen zur Unterstützung und Hilfe von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern mit dem Ziel, junge Menschen in die Gesellschaft zu integrieren". Und wenn von einem Kind erhebliche Straftaten zu befürchten seien, könnte "in äußersten Fällen auch eine Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim und die Entziehung der Personensorge" zulässig sein, so der Ministeriumssprecher.
Die juristischen Berufsorganisationen lehnen den Unionsvorschlag einhellig ab: "Der Deutsche Richterbund sieht keine Notwendigkeit, das Strafmündigkeitsalter auf unter 14 Jahre abzusenken", sagte dessen Bundesgeschäftsführer, Sven Rebehn, am Montag der Nachrichtenagentur AFP. Der Staat habe "schon heute über die Jugendämter und die Familiengerichte die Möglichkeit, bei einer Straffälligkeit von Kindern mit erzieherischen Maßnahmen einzuschreiten".
Auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) winkte ab: Kinder unter 14 Jahren könnten "in aller Regel das Unrecht ihrer Taten aufgrund des Entwicklungsstandes nicht einsehen", so Rechtsanwältin Dr. Jenny Lederer, Mitglied des Ausschusses Strafrecht im DAV. Mit der Herabsenkung der Strafmündigkeitsgrenze würde der Strafverteidigerin zufolge zudem die Gefahr bestehen, "dass dann noch wesentlich jüngere Menschen inhaftiert werden". Dies gelte umso mehr, als die Einzelfall-Absenkung ja gerade für solche Straftaten diskutiert wird, die potenziell nicht nur eine Verwarnung nach sich ziehen. "In Anbetracht dessen, dass Haft eine erhebliche schädliche Wirkung gerade auf junge Menschen zeigt, ist dies tunlichst zu vermeiden."
CDU/CSU für Absenkung des Strafmündigkeitsalters: . In: Legal Tribune Online, 10.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39609 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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