2/2 Genugtuung durch gerichtliche Entscheidung?
Sollte sich die Angelegenheit dennoch nicht durch eine außergerichtliche Einigung beilegen lassen, werde sie am Ende wohl vor dem Bundesgerichtshof (BGH) landen, so der Berliner Anwalt. Ein Verfahren durch alle Instanzen könne jedoch viele Jahre dauern.
Das Land Thüringen, vertreten durch sein Innenministerium, könnte dann in die Haftung genommen werden, sollten die Gerichte befinden, dass es nach der Überleitungsnorm des Art. 34 Grundgesetz (GG) oder aber nach dem thüringischen Staatshaftungsrecht i.V.m. dem Einigungsvertrag für mögliche Fehler seiner Organe einzustehen hat.
Das geringste Problem werde es sein, die gem. § 839 Bürgerliches Gesetzbuch nötige Verletzung von Amtspflichten der Behörden und ihrer Mitarbeiter darzulegen, meint Anwalt Mohammed. Im Abschlussbericht stehe "fast alles drin, was ein Klagevortrag substantiell enthalten muss – ich gehe davon aus, dass der haftungsbegründende und haftungsausfüllende Sachverhalt unstreitig ist." Auch Schulz ist der Ansicht, das Land könne nicht Tatsachen bestreiten, die sein Verfassungsorgan – der Untersuchungsausschuss – festgestellt habe.
Desaströse Ermittlungen der Behörden
In dem Bericht heißt es, bei der Suche nach den mutmaßlichen Neonazi-Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt seien derart viele falsche Entscheidungen gefällt oder "einfache Standards" missachtet worden, dass der "Verdacht gezielter Sabotage oder des bewussten Hintertreibens des Auffindens der Flüchtigen" nahe liege.
Polizei und Staatsanwaltschaft hätten offenbar viele Möglichkeiten gehabt, den Untergetauchten, die 13 Jahre im Untergrund leben und ihre Terroranschläge planen konnten, auf die Spur zu kommen und die Anschläge zu verhindern. Doch "aufgrund der Nichtverarbeitung wichtiger Informationen und der Nichtverfolgung zahlreicher Fahndungsansätze wurden die drei Flüchtigen nicht gefasst", heißt es in dem Bericht. Auch sollen bislang unbekannte Mitarbeiter der Ermittlungsbehörden die Verdächtigen Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt offenbar immer wieder vor Razzien gewarnt haben.
Verantwortlich sei außerdem der Thüringische Verfassungsschutz, so der Bericht. Das Thüringer Innenministerium als oberste Aufsichtsbehörde konnte diese Missstände nicht entdecken, denn zumindest bis zum Jahr 2000 habe es seine Kontrollfunktion faktisch nicht ausgeführt.
Opferanwalt: "Aktenvernichtung führt zur Beweislastumkehr"
Sollte das Land Thüringen diese Ergebnisse des Untersuchungsausschusses im Zivilverfahren bestreiten, sieht sich Mohammed dennoch abgesichert. Er geht davon aus, dass ausnahmsweise nicht sein Mandant beweisen muss, dass die Behörden schuldhaft ihre Pflichten verletzt haben: "Es wurden Akten vernichtet, das ist unstreitig. Das vereitelt dem Kläger jedwede Beweisführung, was zu einer faktischen Beweislastumkehr führt."
Selbst wenn die Kammer die Frage der Beweislast anders einschätzen würde, ist sich der Opfervertreter sicher, dass ihm die Beweisführung gleichwohl gelingen werde. Er könne Zeugen benennen, die "noch offene Rechnungen mit wem auch immer" hätten und "einiges sagen" wollten. Sein Kollege, Rechtsanwalt Schulz, betreue ehemalige V-Leute und andere Personen, die über relevante Informationen verfügten. "Es gibt immer einen Snowden, der Einblick in Mechanismen gibt, welche man nicht für möglich gehalten hätte. Diese "Whistleblower" können ein realistisches Bild aufzeichnen, wie sich in den Schnittstellen der nachrichtendienstlichen Arbeit rechtsextremistische Metastasen herausbilden konnten, die letztendlich Geburtshelfer des NSU gewesen sind."
Das Thüringische Innenministerium möchte sich zu dem laufenden Verfahren nicht äußern. Die Klageschrift liegt dort auch noch gar nicht vor, weil Ismail P. eine nach dem thüringischen Verfahrensrecht notwendige Monatsfrist abwarten muss, bevor er durch die Zahlung der Prozesskosten deren Zustellung an den Prozessgegner bewirken kann. Bis dahin hat das Land Zeit, sich zu den vorgerichtlichen Anspruchsschreiben zu äußern. Bisher ist keine Stellungnahme bei Opferanwalt Mohammed eingegangen.
"Eine Lösung jenseits juristischer Wege"
Die Fakten des Berichts zugrunde gelegt, hätten der Verfassungsschutz, die Polizei und die Staatsanwaltschaft wohl gegen die Bundes- und Landesverfassung, das Polizeigesetz, die Strafprozessordnung und diverse interne Regeln verstoßen. Nicht alle diese Normen dienen aber dazu, Außenstehende zu schützen. Ein solcher Drittschutz ist jedoch Voraussetzung für einen Amtshaftungsanspruch.
Mit Sicherheit dient dem Schutz der Bürger das Gefahrenabwehrrecht, welches die Behörden verpflichtet, sie vor Gefahren für Leib und Leben zu beschützen. Schwieriger wird es bei der Strafprozessordnung, welche primär den staatlichen Strafanspruch sichern soll. Und der Verfassungsschutz ist dem Legalitätsprinzip erst gar nicht unterworfen, weil er nur innerhalb des Staates und nicht direkt gegenüber dem Bürger tätig wird.
Sollte das Gericht der Klage stattgeben, könnte das Urteil als eine Art Präzedenzfall für Klagen anderer NSU-Opfer fungieren, glaubt Mohammed. Sein Team arbeitet mit mehreren Vertretern anderer Geschädigter zusammen und plant eine Kooperation mit den Anwälten aller NSU-Opfer, um eine kollektive Klage gegen Thüringen anzustrengen – falls es nicht vorher zu einer Lösung jenseits juristischer Wege kommen sollte.
Das Land Thüringen habe zwar die Aufklärung in vorbildlicher Art und Weise betrieben. Seine Pflicht zur Wiedergutmachung ende jedoch nicht bei der Sachaufklärung, meint Mohammed. Nun müsse der Staat die Verantwortung für die Fehler übernehmen und die längst überfällige Generalentschädigung für alle Opfer leisten. Dies beträfe in letzter Konsequenz nicht nur Thüringen, sondern auch andere Bundesländer und den Bund.
Anne-Christine Herr, Amtshaftungsklage gegen Thüringen nach NSU-Bericht: . In: Legal Tribune Online, 10.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13131 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag