Der BGH urteilt am Montag über Schadensersatz für Dieselkunden bei fahrlässiger illegaler Abschalteinrichtung. Experten diskutieren bei LTO über die richtige Berechnung. Doch am Ende könnte das Urteil auch faktisch wirkungslos bleiben.
Es geht um Millionen Dieselfahrzeuge und Milliarden Euro potentieller Schadensersatzansprüche von Dieselkunden. Am Montag muss der Bundesgerichtshof (BGH) erneut entscheiden, ob Dieselkunden ein deliktischer Schadensanspruch gegen Autohersteller zusteht, wenn in ihren Autos fahrlässig eine illegale Abschalteinrichtung verbaut wurde. Konkret geht es um Thermofenster, die bei in Deutschland völlig üblichen Temperaturen die Abgasreinigung herunterschalten und damit der Gesundheit der Bevölkerung schaden.
Der BGH lehnte einen Schadensersatzanspruch bei Thermofenstern in früherer Rechtsprechung ab. Denn er verlangte für die deliktische Haftung im Dieselskandal eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (§ 826 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)), Fahrlässigkeit reiche nicht. Doch der EuGH urteilte, es müsse auch bei Verletzung von Zulassungsbestimmungen ein Schadensersatz möglich sein. Vor dem BGH musste also neu verhandelt werden.
BGH deutet an: Den Kaufpreis gibt es nicht zurück
In der mündlichen Verhandlung am 8. Mai ließ die Vorsitzende Richterin Dr. Eva Menges durchblicken, nun einen Schadensersatzanspruch zuzusprechen, der allerdings – anders als im VW-Urteil von 2020 – nicht auf die Rückabwicklung des Kaufvertrages gerichtet sein könnte. Bei Schutzgesetzen, die nur Fahrlässigkeit auf Schädigerseite voraussetzen, könnte auch die Rechtsfolge anders ausfallen als für Schadensersatzvorschriften, die Vorsatz verlangen, so Dr. Menges sinngemäß.
Sie sprach von einem "mittleren Schadensersatz" und von einem "Differenzhypothesenvertrauensschadenseratz". Über einen kürzeren Begriff für dieses Wortungetüm solle noch nachgedacht werden, so Menges. Über die genaue Art und Weise der Berechnung verriet sie nichts.
Prof. Faust: Auch bei fahrlässigem Handeln muss es großen Schadensersatz geben
Prof. Dr. Florian Faust von der Bucerius Law School hält von der Idee einer unterschiedlichen Rechtsfolge, je nachdem ob die illegale Abschalteinrichtung vorsätzlich oder fahrlässig eingebaut wurde, nichts: Faust sagt gegenüber LTO: "Die Schadensersatznormen (§§ 249 ff. BGB) differenzieren nicht danach, worauf die Schadensersatzhaftung beruht. Dieser wesentliche Grundgedanke der gesetzlichen Regelung würde durchbrochen, wenn man jetzt unter Hinweis darauf, der Hersteller habe 'nur' fahrlässig gehandelt, dem Geschädigten den 'großen Schadensersatz' verweigern würde".
Grundsätzlich gilt im deutschen Recht – unabhängig vom Grad des Verschuldens – der Vorrang der Naturalrestitution, das heißt, der Geschädigte ist so zu stellen, als wäre das schädigende Ereignis nicht eingetreten (großer Schadensersatz, Rückabwicklung). Dies ergibt sich aus § 249 Abs. 1 BGB. Auch in Österreich gilt dieses Prinzip. Dort entschied der Oberste Gerichtshofs Österreichs (öOGH) jüngst, dass auch bei illegalen Thermofenstern großer Schadensersatz zuzusprechen sei, der Kunde den Kaufpreis – nach Anrechnung gezogener Nutzungen – Zug um Zug gegen Rückgabe des Autos zurückverlangen dürfe (10 Ob 2/ 23a und 10 Ob 16/23k). Ein Weg, den der BGH – nach dem Verlauf der mündlichen Verhandlung – eher nicht bestreiten will.
Prof. Schwintowski: BGH-Ansatz überzeugend
Der angedachte Ansatz des VIa-Zivilsenats findet indes nicht nur Widerspruch. Prof. Hans-Peter Schwintowski, ehemals tätig an der Humboldt Universität zu Berlin, hält einen "mittleren Schadensersatz" für richtig. Nach dem EuGH-Urteil müsse nur der Schaden ersetzt werden, der tatsächlich entstanden sei. Ausdrücklich stelle der EuGH auch darauf ab, dass der Ersatz in einem "angemessenen Verhältnis" zum entstandenen Schaden zu stehen habe.
Und den Schaden definiere der EuGH als die Unsicherheit hinsichtlich der Möglichkeit, das Fahrzeug anzumelden, zu verkaufen oder in Betrieb zu nehmen. "Denkt man diese Risiken in den Begriff des Schadens hinein, so entsteht in der Tat eine Art 'mittlerer Schadensersatz'". Auch zur Frage, wie dieser bemessen werden könnte, hat sich Schwintowski auf LTO Gedanken gemacht.
Prof. Heinze: Unionsrecht fordert keine Rückabwicklung
Auch Prof. Dr. Christian Heinze von der Universität Heidelberg kann dem Ansatz des BGH etwas abgewinnen. Der Weg des öOGH sei unionsrechtlich nicht zwingend. Denn das Unionsrecht verlange gerade nicht die Naturalrestitution, die eher Besonderheit des deutschen und österreichischen Rechts sei. Der EuGH knüpfe nicht an die Beeinträchtigung der Vertragsabschlussfreiheit, sondern an die "Unsicherheit" als Schaden an.
Insofern werde nur das Vertrauen in den Bestand der Betriebserlaubnis geschützt. Diesen Schaden könnte man ersetzen, indem der Minderwert für die Unsicherheit der Fahrzeuggenehmigung ersetzt wird, so Prof. Heinze. Auch der grundsätzliche Vorrang der Naturalrestitution im deutschen Recht sei überwindbar. Neben der Schutzweckargumentation könne der BGH die eigentlich vorrangige Naturalrestitution auch als "nicht möglich" iSd § 251 Abs. 1 BGB (weil unklar ist, was erforderlich ist, um die Betriebsgenehmigung sicher zu erhalten) oder "unverhältnismäßig" iSd § 251 Abs. 2 BGB (weil zu teuer) ansehen.
Inwieweit der vom BGH angedeutete "mittlere Schadensersatz" über den kleinen Schadensersatz – gerichtet auf Erstattung des Minderwertes des Fahrzeugs – hinausgeht, wird mit Spannung erwartet. Prof. Faust von der Bucerius Law School ist auch insoweit kritisch: Ich möchte davor warnen, mit dem "Differenzhypothesenvertrauensschaden" nochmals eine neue Kategorie in das Schadensrecht einzuführen, bei der außerdem unklar ist, wie sie sich zum "kleinen Schadensersatz" verhält, so Faust.
Totalausfall wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums?
Unterdessen verstärken sich die Zweifel, ob die sich bereits lange hinziehende finale Klärung des Schadensersatzes bei Thermofenstern am Montag überhaupt erreicht wird. Der BGH entscheidet nur über die Frage, wie der Schadensersatz bei Fahrlässigkeit berechnet wird. Die Frage, ob die Hersteller überhaupt fahrlässig gehandelt haben, steht hingegen eigentlich nicht auf dem Prüfprogramm.
Mehrere Oberlandesgerichte haben bereits entschieden, dass die Autohersteller nicht einmal fahrlässig gehandelt hätten. Vielmehr sollen sie einem "unvermeidbaren Verbotsirrtum" nach § 17 S. 1 StGB im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit der Abschalteinrichtung unterlegen haben. Die Haftung soll ausgeschlossen sein, da das Kraftfahrtbundesamt (KBA) selbst bei unterstellt vollständiger Information die Abschalteinrichtung als legal genehmigt hätte.
Es schadet also nach der Auffassung der Gerichte nicht einmal, dass das KBA nicht über Abschalteinrichtungen informiert wurde. Allein die Annahme, dass das KBA die Abschalteinrichtungen nicht als illegal eingestuft hätte, soll für die Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums reichen. Konkret entschieden haben dies das OLG Stuttgart (Urt. v. 21.12.2022, Az. 23 U 492/12), das OLG Hamm (Beschl. v. 23.03.2023, Az. 7 U 113/12) und das OLG Schleswig (Beschl. v. 17.04.23, Az.12 U 42/22).
Nach dem BGH ist vor dem BGH?
Die Entscheidungen thematisieren weder den Umstand, dass das KBA kaum als von der Automobilindustrie unabhängige Behörde angesehen werden kann, noch dass zukünftig die Entziehung der Betriebserlaubnis durch Verwaltungsgerichte droht. Auch mit der Frage, ob nicht bereits zum Bau das Fahrzeugs bessere Technik zur Verfügung stand, die aus Kostengesichtspunkten nicht eingebaut wurde, was für mindestens fahrlässiges Handeln spräche, beschäftigen sich die Gerichte nicht.
Das Urteil des EuGH könnte im Falle des Schadens für den Dieselkunden einen Anspruch vorschreiben. So heißt es unzweideutig, dass "die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, dass der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung (…) ausgestatteten Fahrzeugs einen Anspruch auf Schadensersatz durch den Hersteller dieses Fahrzeugs hat, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist."
Nach dem BGH-Urteil könnte also vor dem BGH-Urteil sein, wenn der VIa-Zivilsenat nicht unmissverständliche Leitplanken zieht und zwar erstens zur Berechnung des Schadensersatzes und zweitens – etwa in Form eines obiter dictums – zur Frage, ob die EuGH-Rechtsprechung mit der Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums auf Seiten der Hersteller in Einklang zu bringen ist.
Setzt sich hingegen die Argumentation des "unvermeidbaren Verbotsirrtums" durch, werden Dieselkunden völlig leer ausgehen. Selbst wenn die Rechtsprechung des VG Schleswig rechtskräftig wird und ihre Autos mit illegalem Thermofenster von der Straße müssen, bekämen sie keinen Schadensersatz. Im Geiste der EuGH-Rechtsprechung wäre dies wohl kaum.
BGH vor Entscheidung im Dieselskandal 2.0: . In: Legal Tribune Online, 24.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52076 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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