Die "Volksrepubliken" in der Ost-Ukraine: Russ­lands große Ins­ze­nie­rung

Gastbeitrag von Prof. Dr. Stefan Oeter

07.07.2022

Jüngst hat ein Gericht der Separatisten drei Ausländer zum Tode verurteilt – weil sie für die Ukraine gekämpft haben. International wird das nicht anerkannt. Denn: Staatsqualität haben die Volksrepubliken nicht, erklärt Stefan Oeter. 

Im Gefolge der von Russland inszenierten Aufstände im Osten der Ukraine haben sich 2014 die beiden – selbsternannten – "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk gebildet, die Russland im Februar 2022 auch als selbständige Staaten anerkannt hat. War die rechtliche Stellung dieser "Volksrepubliken" schon bislang problematisch, so steigert sich diese Problematik noch mit deren Beteiligung an dem offenen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. 

Deren Milizen nehmen auf russischer Seite teil an den Kämpfen, die Herrschaftsstrukturen der beiden "Volksrepubliken" engagieren sich aktiv an den harten Maßnahmen gegen alle Formen ukrainischer Nationalstaatlichkeit. So hat das Oberste Gericht der separatistischen Donezker Volksrepublik im Juni drei ausländische Kämpfer in den Reihen der ukrainischen Streitkräfte als Söldner zum Tode verurteilt – und dies, obwohl diese evident nicht unter die international etablierte Definition des "Söldners" fallen. Konstitutiv für den international konsentierten Begriff des Söldners ist die Teilnahme an Kampfhandlungen aus Gewinnstreben, die ihren Ausdruck findet in einer Entlohnung weit über dem normalen Sold regulärer Angehöriger der Streitkräfte. Die im konkreten Fall betroffenen Kämpfer waren jedoch Angehörige regulärer ukrainischer Einheiten, die den ganz normalen Sold ukrainischer Soldaten erhielten.

Verlautbarungen von Amtsträgern dieser Gebilde deuten auch darauf hin, dass man Angehörige der ukrainischen Streitkräfte pauschal wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor Gericht stellen wolle, in Nachahmung des Vorgehens der stalinistischen Justiz gegen deutsche Kriegsgefangene in den Vierziger Jahren.

Nach den Regeln des Humanitären Völkerrechts, insbesondere der Dritten Genfer Rotkreuzkonvention zum Schutz von Kriegsgefangenen, sind derartige Vorgehensweisen unzulässig. Reguläre Mitglieder der gegnerischen Streitkräfte sind nach Humanitärem Völkerrecht durch das "Kombattantenprivileg" geschützt, sie werden also nicht für die "simple" Teilnahme an Kampfhandlungen bestraft. Einzig Exzesstaten, in Form schwerer Verstöße gegen Grundregeln des Humanitären Völkerrechts, sind als Kriegsverbrechen einer strafrechtlichen Verfolgung zugänglich. 

Zudem werfen diese Vorgänge die Frage nach dem rechtlichen Status der "Volksrepubliken" auf. 

"Volksrepubliken" haben keine Staatsqualität

Der Ausgangspunkt ist dabei zunächst noch unstreitig. Bis auf Russland und einige wenige russische Klientelstaaten (wie Syrien), die die "Volksrepubliken" förmlich als souveräne Staaten anerkannt haben, stuft die Staatengemeinschaft diese Gebilde nicht als Völkerrechtssubjekte mit Staatsqualität ein. 

Selbst die Kategorie des "de facto-Regimes", die sich im Völkerrecht für Gebilde eingebürgert hat, die institutionelle Strukturen wie ein Staat aufweisen, ohne als solcher anerkannt zu sein, wäre im Blick auf die beiden "Volksrepubliken" im Osten der Ukraine noch zu hoch gegriffen. 

Dies hängt mit der Entstehung und inneren Struktur der Gebilde zusammen. Letztlich sind sie das Produkt der russischen Aggression des Jahres 2014 gegen die Ukraine. Die "Volksaufstände", die damals zum Entstehen der beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk führten, waren klar von russischen Diensten inszeniert und wären ohne das direkte Eingreifen regulärer russischer Streitkräfte auch in sich zusammengebrochen. 

Nur durch massive Intervention der russischen Armee konnten die Gebiete gegen die Rückeroberungsversuche der Ukraine militärisch gesichert werden, und im Hintergrund ziehen die russischen Geheimdienste und das russische Militär bis heute dort die Fäden. Russische Berater sitzen an fast allen Schaltstellen des Herrschaftsapparats und des Militärs dieser Gebilde; letztlich handelt es sich um eine Fassadenkonstruktion vorgeblich eigenständiger Staatlichkeit, mit der die faktische militärische Besetzung der Gebiete durch Russland kaschiert werden soll.

Völkerrecht erkennt Hoheitsakte der "Schattengebilde" nicht an

Die Konstellation ist im Übrigen nicht neu. Vergleichbare "Schattengebilde", die von Russland erschaffen wurden und nur von Russland und einigen seiner Klientelstaaten anerkannt wurden, gibt es auch an einigen anderen Stellen des postsowjetischen Raumes – man denke an die "Republiken" Transnistrien, Abchasien und Südossetien. 

Auch die im Gefolge der türkischen Invasion in Zypern 1974 geschaffene "Türkische Republik Nordzypern" weist strukturell starke Parallelen auf. Es handelt sich um Produkte völkerrechtswidriger militärischer Gewaltakte, die in einer Besetzung fremden Gebietes mündeten – und die vorgebliche Eigenstaatlichkeit der Gebilde soll die im Kern fortdauernde Situation (völkerrechtswidriger) militärischer Besetzung bemänteln. 

Nach allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts sind derartige Gebilde prinzipiell nicht anerkennungsfähig; deren Hoheitsakte werden als "Nicht-Akte" gewertet, also als reine Vortäuschungen staatlicher Akte, denen keinerlei Rechtswirkung zukommt. 

So erkennt außerhalb Russlands niemand die von den Volksrepubliken Donezk und Lugansk ausgegebenen Pässe an. Wenn Bewohner dieser Gebiete ins westliche Europa (oder andere Teile der Welt) reisen wollen, müssen sie sich entweder einen russischen oder ukrainischen Pass besorgen – de jure sind die Bewohner der beiden "Volksrepubliken" ja weiter ukrainische Staatsangehörige. Auch andere staatliche Hoheitsakte oder Dokumente werden international nicht anerkannt.

Organe der "Volksrepubliken" missachten Humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte

Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die sich im Gewahrsam der Machthaber in Donezk und Lugansk befinden, hilft diese prinzipielle Nichtanerkennung natürlich wenig. Sie sind den Gewaltstrukturen der "Volksrepubliken" schutzlos ausgeliefert – und die Art des Umgangs der lokalen Gewaltstrukturen mit ukrainischen Gefangenen zeigt deutlich, dass die Organe der "Volksrepubliken" nicht gewillt sind, sich an internationale Standards des Humanitären Völkerrechts und des Menschenrechtsschutzes zu halten. 

Nach allgemeiner Auffassung der Völkerrechtslehre sind zwar auch "Quasi-Staaten" und nicht-staatliche Gewaltakteure (wie Bürgerkriegsparteien) an das Humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte gebunden, zumindest soweit diese Standards den Charakter von Völkergewohnheitsrecht haben. Dazu zählen die grundlegenden Normen des Verbots der unterschiedslosen Kampfführung zu Lasten der Zivilbevölkerung, aber auch die Grundregeln des Umgangs mit Kriegsgefangenen und die fundamentalen Regeln zum Schutz der Bevölkerung in besetzten Gebieten. 

Es gibt aber keine funktionsfähigen Mechanismen, die diese grundsätzliche Bindung tatsächlich durchsetzen würden. Dies ist von besonderer Brisanz in Fällen wie der Ostukraine. Schon Russland, der "Patron" der Volksrepubliken, ignoriert weitgehend seine Bindungen aus dem Humanitären Völkerrecht, etwa im Blick auf den Schutz der Zivilbevölkerung vor Kampfhandlungen, die Behandlung von Kriegsgefangenen und den Umgang mit der Bevölkerung in den besetzten Gebieten. 

Zudem lässt es durch seine Truppen und Sicherheitsdienste systematisch und in großem Umfang Kriegsverbrechen begehen. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, dass die "Behörden" und Milizen der Volksrepubliken agieren, als gäbe es für sie keine bindenden rechtlichen Standards – Drangsalierung und Folter von Gefangenen ist gang und gäbe, und Verfahren vor den "Gerichten" der Volksrepubliken sprechen den Standards eines fairen Verfahrens durchgängig Hohn.

Unter diesen Umständen träfe Russland als Vertragspartei der Genfer Konventionen eigentlich eine Art Auffangverantwortung. Gefangene dürften bei notorischer Missachtung der Standards der Dritten Rotkreuzkonvention nicht an die Behörden der "Volksrepubliken" überstellt oder diesen überlassen werden. 

Russland ist für Zustand in den "Volksrepubliken" verantwortlich

Vergleichbare Maßgaben gelten für den Bereich des Menschenrechtsschutzes. Ukraine und Russland waren bei Kriegsbeginn Vertragsparteien der Europäischen Menschenrechtskonvention; Russland hat zwar inzwischen seine Mitgliedschaft beendet, doch die vertraglichen Verpflichtungen gelten übergangsweise bis zum Ende des Jahres fort. 

Die Ukraine ist grundsätzlich für die Zustände auf dem Gebiet der "Volksrepubliken" verantwortlich, da es sich hier de jure ja weiterhin um dessen Staatsgebiet handelt – allerdings übt die Ukraine dort keine effektive Kontrolle aus und kann insofern im Ergebnis schlecht für die Missstände in den "Volksrepubliken" verantwortlich gemacht werden. Zumindest Russland trägt jedoch eine erhebliche Verantwortung für die dortigen Zustände, da die "Volksrepubliken" weitgehend unter seiner Kontrolle stehen. 

Die offene Missachtung der einschlägigen völkerrechtlichen Regeln seitens der "Volksrepubliken" ist im Kern nichts als ein vergröbertes Spiegelbild der russischen Praxis im Umgang mit völkerrechtlichen Standards. Bei den "Volksrepubliken" handelt es sich um eine Fassadenkonstruktion vorgetäuschter Staatlichkeit, mit der das hässliche Faktum der (völkerrechtswidrigen) militärischen Besetzung der Ostukraine verdeckt werden soll. 

Eine zusätzliche Pointe ist, dass so die Anwendbarkeit der klassischen Schutzstandards für Fälle der militärischen Besetzung negiert werden kann – unter Auslagerung all der Rechtsbrüche an Akteure, die sich mangels eines anerkannten völkerrechtlichen Status gerieren können, als stünden sie außerhalb des Völkerrechts.

Prof. Dr. Stefan Oeter ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und ausländisches Öffentliches Recht an der Universität Hamburg.

Zitiervorschlag

Die "Volksrepubliken" in der Ost-Ukraine: . In: Legal Tribune Online, 07.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48977 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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