Regierungsbildung: Die bewusste Igno­ranz der Ver­fas­sung

von Benedikt Bögle

21.10.2021

Bundestags- und Kanzlerwahl sind in der Verfassung geregelt. Was dazwischen passiert, fand im Grundgesetz keinen Platz: Sondierungen und Koalitionsverhandlungen werden nicht erwähnt. Warum, zeigt Benedikt Bögle

Die Schritte zur Regierungsbildung in Deutschland sind eingespielt: Noch am Wahlabend wird ein Wahlsieger bzw. eine Wahlsiegerin ausgemacht; bei ihm oder ihr liegt der Auftrag, eine neue Bundesregierung zu bilden. Es folgen Vorsondierungen, Sondierungsgespräche und schließlich Koalitionsverhandlungen. An deren Ende steht ein umfangreicher Koalitionsvertrag, der detailliert festschreibt, was die kommende Regierung erreichen möchte. Der Kandidat oder die Kandidatin der stärksten Regierungspartei wird im Bundestag zum Kanzler bzw. zur Kanzlerin gewählt, anschließend schlägt er oder sie dem Bundespräsidenten seine Ministerinnen und Minister vor. Dann steht – Wochen oder Monate nach der Wahl – die neue Regierung.  

Dieses eingespielte System wurde in diesem Jahr hinterfragt. Schon am Wahlabend war klar, dass die SPD die meisten Abgeordneten im neuen Bundestag stellen würde. Trotzdem meinte CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet: Neuer Bundeskanzler müsse nicht zwingend Olaf Scholz (SPD) werden. Was manchem als verzweifelter Versuch gelten musste, die Wahlniederlage nicht einzugestehen, ist aus Sicht der Verfassung korrekt. Das Grundgesetz (GG) trifft für die Regierungsbildung nach einer Bundestagswahl keine Bestimmungen. 

Verfassungsrechtler: "Politische Kräfte brauchen einen gewissen Spielraum" 

Während die Verfassung zumindest die Bundestagswahl (Art. 38 GG) und das erste Zusammentreten des Bundestages (Art. 39 GG) regelt, fehlen Vorschriften für die politische Bildung einer neuen Regierung.  

Die Verfassung überspringt also alles, was zwischen Bundestags- und Kanzlerwahl passiert. Stellt sich das Grundgesetz die Regierungsbildung so einfach vor, dass weitere Regelungen überflüssig wären? Nicht unbedingt, meint Dr. Christoph Degenhart, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Leipzig sowie ehemaliger Richter am Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen. "Das Grundgesetz regelt den Akt der Regierungsbildung nicht im Detail, weil es sich hier um einen Akt des politischen Geschehens und Kräftespiels handelt, das nicht in umfassendes Kautelenrecht gebunden werden kann. Den politischen Kräften muss ein gewisser Spielraum zugestanden werden", sagt Degenhart gegenüber LTO.  

Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes war klar, dass es Koalitionen zur Regierungsbildung geben müsse, meint Degenhart. Dass eine einzige Partei die Mehrheit im Parlament erringt, ist im System der Bundesrepublik zwar nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich. Trotzdem sollten keine Regelungen für die Koalitionsbildungen geschaffen werden; so sieht das Grundgesetz nicht einmal eine Frist vor, in der der Bundestag zur Kanzlerwahl schreiten muss. Bis dahin übernimmt nach Art. 69 Abs. 2 und 3 GG geschäftsführend in der aktuellen Situation die scheidende Kanzlerin.  

Wahl ohne Aussprache 

Für die Wahl des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin interessiert sich die Verfassung wieder: Nach Art. 63 Abs. 1 GG schlägt der Bundespräsident nach abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen eine Person vor; diese muss dann vom Bundestag mit der sogenannten "Kanzlermehrheit" gewählt werden. Aber: "Der Bundespräsident ist von Rechts wegen frei, wen er zur Wahl vorschlägt", sagt Degenhart. Eine Pflicht, auf die Koalitionsverhandlungen Rücksicht zu nehmen, ergibt sich daraus nicht.  

Mehr als die Hälfte der Bundestagsabgeordneten muss für den Kandidaten oder die Kandidatin stimmen; die Mehrheit der Anwesenden genügt nicht. Allerdings legt das Grundgesetz fest, dass im ersten Wahlgang keine Aussprache über die Wahl stattfindet. Damit aber nimmt die Verfassung doch Bezug auf das politische Geschehen der Regierungsbildung. "Der Bundespräsident wird nur einen Kandidaten vorschlagen, der auch gewählt werden wird; denn andernfalls fällt die Nichtwahl des Bundeskanzlers auf den Bundespräsidenten zurück", sagt Prof. Dr. Oliver Lepsius, Lehrstuhlinhaber für öffentliches Recht und Verfassungstheorie in Münster. Das Grundgesetz spricht also nicht ausdrücklich von Koalitionsverhandlungen, setzt sie aber voraus. Ohne die Bildung von Koalitionen würde der erste Wahlgang nach Art. 63 Abs. 1 GG beinahe immer scheitern – das aber kann weder der Bundespräsident noch das Parlament wollen.  

"Der Bundespräsident muss eine Einschätzung vornehmen, wer ohne Aussprache gewählt wird", so Lepsius. Die Verfassung verzichtet bewusst darauf, politische Vorgänge in ein rechtliches Korsett zu zwängen. "Politische Bindungen sind für die Verfassungspraxis rechtlichen Sanktionen vorzuziehen, weil sie keinen Rechtsweg benötigen, sondern die Reaktionsmöglichkeiten anderer Organe einbeziehen, insgesamt schneller und effektiver sind", so Lepsius.  

Das GG will eine stabile Regierung 

Scheitert diese Mehrheit, können die Abgeordneten nun selbst Kanzlerkandidatin oder -kandidaten vorschlagen. Vierzehn Tage hat das Parlament nach Art. 63 Abs. 3 GG dafür Zeit. Wiederum braucht aber diese Person die "Kanzlermehrheit". Scheitert auch das, kann nach zwei Wochen ein dritter Wahlgang stattfinden. Nach Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG reicht dann die einfache Mehrheit.  

Dann aber liegt der Ball wieder beim Staatsoberhaupt. Der Bundespräsident hat dann die Wahl: Er kann den gewählten Kanzler oder die Kanzlerin ernennen, aber auch den Bundestag auflösen und damit Neuwahlen herbeiführen. Der Grund: "Eine Minderheitsregierung sieht das Grundgesetz nicht so gerne, es legt ersichtlich besonderen Wert auf Regierungsstabilität", sagt Degenhart. Wird eine Person nicht mit der sicheren Kanzlermehrheit gewählt, kann der Bundespräsident versuchen, politisch stabilere Verhältnisse durch eine neue Wahl herbeizuführen.  

Rechtlich keine Bindung an Koalitionsverhandlungen 

Auf die Wahl des Kanzlers oder der Kanzlerin folgt die Besetzung der Ministerien. Der Kanzler oder die Kanzlerin wird entsprechend der Koalitionsvereinbarung die Regierung bilden und dem Bundespräsidenten die einzelnen Ministerinnen und Minister vorschlagen.  

Doch auch hier sind Kanzler und Präsident rechtlich nicht an den Koalitionsvertrag gebunden. "Koalitionsvereinbarungen haben keine rechtlich bindende Wirkung", sagt Degenhart. Der Bundeskanzler wird sich zwar bei der Verteilung der Ministerien an die Koalitionsvereinbarungen halten – schon, um kein Misstrauensvotum nach Art. 67 Abs. 1 GG zu provozieren. Ob die Verteilung der Ministerien aber dem Koalitionsvertrag entspricht, ist der Verfassung egal – und muss in der Folge auch dem Bundespräsidenten egal sein.  

Verfassung verzichtet auf Sanktionen 

Auch hier verzichtet die Verfassung also bewusst auf rechtliche Sanktionierungen. "Das würde das Problem nicht lösen", sagt Lepsius. Am Ende müsste dann das Bundesverfassungsgericht über Koalitionsverträge entscheiden. "Die Inanspruchnahme des Rechts kann eine extrem delegitimierende Wirkung haben." Obwohl Koalitionen und ihre Vereinbarungen einen erheblichen Beitrag zur politischen Stabilität der Bundesrepublik leisten, vertraut die Verfassung auf die politischen Mechanismen. "Das Grundgesetz rechnet mit der Selbstorganisation seiner Organe. Die Verfassung hat Rahmencharakter", sagt Lepsius.

Dieser Rahmen verzichtet also weitgehend auf rechtliche Konsequenzen. Bei Sondierungen und Koalitionsverhandlungen sollen die Parteien politisch frei sein. Selbst der Bundespräsident ist an ihr Ergebnis nicht zwingend gebunden. Das Konstrukt der Verfassung aber hat sich bewährt: Jüngst 2017, als erst nach langem Ringen eine große Koalition aus Union und SPD stand. "Die Regierungsbildung 2017 war der Stresstest für Art. 63 GG", meint Lepsius.  

Den hat sie bestanden. 

Zitiervorschlag

Regierungsbildung: . In: Legal Tribune Online, 21.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46425 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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