Asylrechtler Thym zu Flüchtlingsprotesten in Berlin: "Jahrelange Reiseverbote hat nur, wer eigentlich sowieso ausreisen müsste"

Seite 2/2: "In den Ländern sollten vergleichbare Aufnahmebedingungen gelten"

LTO: Die Ausgestaltung ist in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich. Während sich Asylbewerber in Bayern nur innerhalb des jeweiligen Regierungsbezirkes und der angrenzenden Landkreise frei bewegen dürfen, können sie sich in Schleswig-Holstein immerhin im gesamten Landesgebiet aufhalten. Macht das Sinn? Sollten sich die Bayern nicht wenigstens ein Vorbild an den Norddeutschen nehmen?

Thym: Das Beispiel, das Sie nennen stimmt, aber meine Bewertung ist anders. Bayern ist ein großer Flächenstaat. Wenn ein Asylbewerber sich frei im Regierungspräsidium Oberbayern bewegen kann, gibt ihm dies mehr Möglichkeiten als die Bewegungsfreiheit in Schleswig-Holstein. Der Grund ist einfach: Oberbayern ist schlicht größer als unser nördlichstes  Bundesland.

Doch zum Föderalismus: Ich finde es richtig, dass wir in Deutschland und darüber hinaus in ganz Europa alle Asylbewerber gleichmäßig auf verschiedene Städte und Regionen verteilen. Wenn man jedoch den Wohnsitz nicht frei wählen kann, müssen vergleichbare Aufnahmebedingungen gelten. Die Unterschiede bei der Residenzpflicht sind daher kein Idealzustand.

Dennoch sollte man die Unterschiede nicht verteufeln. Die Reform des Jahres 2011 war schlicht ein realpolitischer Kompromiss zwischen Regierung und Opposition, der damals von den Flüchtlingsorganisationen auch begrüßt wurde. So funktioniert eben Politik. Die Lockerungen der letzten Monate hätte es ohne Vielfalt zwischen den Ländern nicht gegeben.

Wer abgeschoben werden soll, ist von einer Geldstrafe nicht sonderlich beeindruckt“

LTO: Verstöße gegen die Residenzpflicht werden strafrechtlich verfolgt. Muss das sein und hat das wirklich abschreckende Wirkung?

Thym: Ein einmaliger Verstoß ist eine Ordnungswidrigkeit. Erst wenn die Behörden einen wiederholten, vorsätzlichen Verstoß feststellen, ist eine Strafverfolgung möglich.

Unabhängig hiervon sprechen Sie mit der Abschreckungswirkung jedoch einen wichtigen Punkt an. Speziell bei Asylbewerbern, die keine realistische Chance auf Anerkennung haben wie etwa die Bürger Serbiens und Mazedoniens, hat es der Staat schwer mit der Durchsetzung der Gesetze.

Selbst eine Strafandrohung hat hier zumeist keine Abschreckungswirkung. Das ist aber nicht der Fehler der Gesetze, sondern eine Folge der Lebensumstände. Wem eine Abschiebung droht, dem imponiert die Drohung mit einer Geldbuße beziehungsweise -strafe nicht besonders.

"Im europäischen Vergleich ist Deutschland ist gar nicht so streng"

LTO: Gibt es Alternativen, die für die Asylbewerber weniger einschneidend sein könnten?

Thym: Mehrere EU-Staaten praktizieren ein anderes Verfahren. Dieses ist jedoch eine schwere Freiheitsbeschränkung: die Ingewahrsamnahme bestimmter Asylbewerber. Ich persönlich finde nicht, dass Deutschland diesen Weg gehen sollte. Aber er zeigt, dass die deutsche Rechtslage im europäischen Vergleich gar nicht so restriktiv ist.

Meines Erachtens sollte Deutschland den bisherigen Weg konsequent fortschreiten: Asylverfahren zügig und auch zuverlässig durchführen, damit die Residenzpflicht für anerkannte Flüchtlinge möglichst schnell endet.

Ansonsten ist, wie erwähnt, die letzte Lockerung der Residenzpflicht ja erst wenige Monate alt. Wenn sich diese Liberalisierung in vielen Bundesländern bewährt, hat sich im Vergleich zu früher schon sehr viel geändert. Diese Verbesserung sollte man nicht kleinreden.

LTO: Herr Professor Thym, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA).

Die Fragen stellte Jens Kahrmann.

Zitiervorschlag

Daniel Thym, Asylrechtler Thym zu Flüchtlingsprotesten in Berlin: . In: Legal Tribune Online, 02.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7446 (abgerufen am: 17.11.2024 )

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