Asylrechtler Thym zu Flüchtlingsprotesten in Berlin: "Jahrelange Reiseverbote hat nur, wer eigentlich sowieso ausreisen müsste"

Seit über einer Woche campieren Asylbewerber vor dem Brandenburger Tor, einige von ihnen nach einem Hungerstreikstark angeschlagen. Sie protestieren gegen das deutsche Asylrecht, vor allem dagegen, ihren Aufenthaltsort nicht frei wählen und verlassen zu dürfen. Daniel Thym findet diese Residenzpflicht im Asylverfahren durchaus sinnvoll – zumal sie anerkannte Flüchtlinge gar nicht betrifft.



LTO:
Zwei Dutzend Asylbewerber sind mit Unterstützung deutscher Demonstranten von Würzburg nach Berlin marschiert, campieren vor dem Brandenburger Tor und sind in den Hungerstreik getreten. Eine ihrer Hauptforderungen: die Abschaffung der so genannten Residenzpflicht. Herr Professor Thym: Was steckt dahinter? Wieso gibt es diese Pflicht?

Thym: In Deutschland dürfen Asylbewerber ihren Aufenthaltsort nicht frei wählen. Stattdessen werden sie einer Aufnahmeeinrichtung in einem Bundesland zugewiesen. Während der Dauer des Asylverfahrens dürfen sie sodann den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde nicht verlassen. Das ist nicht neu und wird seit zwanzig Jahren praktiziert.

Im Kern verfolgt der Gesetzgeber mit der Residenzpflicht drei Ziele: Erstens soll die Anwesenheit an einem bestimmten Ort die schnelle und zuverlässige Durchführung des Asylverfahrens erleichtern. Zweitens dient die gleichmäßige Verteilung im Bundesgebiet einer gerechten Kostenverteilung, weil Länder und Gemeinden für die dort jeweils lebenden Asylbewerber aufkommen müssen.

Drittens geht es auch um eine Abschreckungswirkung gegenüber Antragstellern, die keine Aussicht auf Asylanerkennung haben wie etwa Serben und Mazedonier. Die Vorteile der Freizügigkeit sollen nur diejenigen erhalten, die ein Recht darauf haben, auch nach dem Asylverfahren in Deutschland zu bleiben.

"Viele Länder haben die Freizügigkeit schon ausgeweitet"

LTO: Gibt es denn schon während des Asylverfahrens Möglichkeiten, von der Residenzpflicht befreit zu werden?

Thym: Im letzten Jahr wurde das Asylverfahrensgesetz geändert. Seither können die Bundesländer die Freizügigkeit ausweiten, was viele Länder auch getan haben.

LTO: Was bedeutet das konkret?

Thym: Diese spürbare Verbesserung kommt bei der Berichterstattung über die Proteste zu kurz. Asylbewerber können sich heute sehr viel freier bewegen als früher – und zwar ohne eine Ausnahme beantragen zu müssen. Einzelheiten legt jedes Bundesland für sich fest. Viele Bundesländer haben die Residenzpflicht auf das gesamte Landesgebiet ausgeweitet; in Berlin und Brandenburg gilt sogar eine landesübergreifende Bewegungsfreiheit.

Können Asylbewerber einen Zielort dennoch nicht frei erreichen, müssen sie weiterhin eine Ausnahmegenehmigung beantragen. Für Schulbesuche, wichtige familiäre Anlässe, Behördentermine oder auch Treffen mit Hilfsorganisationen wird diese eigentlich immer gewährt. Ohne Grund gibt es jedoch keine Befreiung, die Asylbewerber müssen dann ein Verwaltungsverfahren durchlaufen.

"Die Residenzpflicht während des Asylverfahrens ist zumutbar"

LTO: Gegner der Residenzpflicht argumentieren, sie greife ohne Not sehr stark in die persönliche Freiheit der Asylbewerber ein. Wie sehen Sie das: Sollte das Verfahren abgeschafft werden?

Thym: Das Asylverfahren dient der Prüfung, ob jemand Flüchtlingsschutz beanspruchen kann. Es dauert derzeit ungefähr sechs Monate bis zur ersten Entscheidung. Während dieses Prüfverfahrens halte ich die Residenzpflicht für zumutbar.

Wichtig ist, dass anerkannte Flüchtlinge keiner Residenzpflicht unterfallen. Derzeit betrifft das rund ein Drittel der Antragsteller, die nach dem Abschluss des Asylverfahrens einen Flüchtlingsschutz mit deutschlandweiter Freizügigkeit erhalten.

Das Problem sind die restlichen Antragsteller, denen Flüchtlingsschutz weder nach dem Grundgesetz noch nach EU-Recht oder der EMRK zusteht. Für diese stimmt es nicht, dass „stark in die persönliche Freiheit“ eingegriffen würde.

Diese Personen müssten eigentlich aus Deutschland ausreisen, bleiben aber aus verschiedenen Gründen zumeist länger und unterfallen hierbei einer Residenzpflicht nach dem Aufenthaltsgesetz für die sogenannte „Duldung“. Wenn in den Medien von einer Residenzpflicht nach mehrjährigem Aufenthalt gesprochen wird, geht es meist um diesen Personenkreis, der zur Ausreise verpflichtet ist - und nicht um anerkannte Flüchtlinge.

Zitiervorschlag

Daniel Thym, Asylrechtler Thym zu Flüchtlingsprotesten in Berlin: . In: Legal Tribune Online, 02.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7446 (abgerufen am: 16.11.2024 )

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