In welchen Fällen entschließt sich der Bundespräsident dazu, verurteilte Straftäter zu begnadigen? Das wird die Öffentlichkeit auch künftig nicht erfahren, urteilt das OVG Berlin-Brandenburg – und will nicht auf den EGMR warten.
An manchen Stellen lässt einen das Grundgesetz (GG) ratlos zurück: Der Bundespräsident "übt für den Bund das Begnadigungsrecht aus". Mehr als diesen knappen Satz erfahren wir nicht aus Art. 60 Abs. 2 GG über die Praxis der Begnadigung. Einigermaßen anerkannt sind immerhin die Rechtsfolgen der präsidialen Gnade: Das Staatsoberhaupt erlässt einem verurteilten Straftäter die Sanktion oder mildert sie ab. Auch bei schweren Disziplinarmaßnahmen gegen Bundesbeamte wie der Entfernung aus dem Dienst oder der Aberkennung des Ruhegehalts kommt eine Begnadigung in Betracht. Symbolisch bleibt die Person verurteilt; die Sanktion bzw. den Rest der Strafe muss sie aber nicht (in vollem Umfang) verbüßen. So geschehen zugunsten von mehreren verurteilten RAF-Terroristen wie Verena Becker oder Adelheid Schulz, nicht begnadigt wurde aber Christian Klar.
Bekannt geworden sind diese Fälle nicht auf Initiative des Bundespräsidialamtes. Denn das Gnadenrecht wird im Stillen ausgeübt. Der Öffentlichkeit ist nicht bekannt, in welchen Fällen Gnade vor Recht ergeht. Sowohl Namen als auch die zugrunde liegenden Taten bleiben regelmäßig geheim. Nicht einmal die Anzahl der an den Bundespräsidenten gerichteten Gnadengesuche – so nennt man den "Antrag" auf Begnadigung – ist bekannt. Wer am Donnerstag im Gerichtsaal 234 der Verhandlung folgte, erfuhr zumindest, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der letzten Amtszeit zwischen 2017 und 2022 insgesamt 15 Gnadenentscheidungen traf.
Die Anzahl der Fälle ist auch deshalb gering, weil der Bundespräsident nur zuständig ist, wenn der Bund zuständig ist: bei Straftätern nur im Fall von Taten, die in die erstinstanzliche Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofs fallen; bei Disziplinarmaßnahmen nur im Fall von Bundesbeamten. Andernfalls entscheiden die Ministerpräsidenten der Länder.
Arne Semsrott, Aktivist, Journalist und Gründer der Plattform "FragDenStaat", will das grundsätzlich transparenter machen. Er forderte vom Bundespräsidialamt umfassende Auskünfte über die zwischen 2004 und 2021 erfolgten Begnadigungen: etwa Namen der Begnadigten, Datum der Begnadigung und Aktenzeichen der zugrunde liegenden Verfahren sowie die zugrunde liegende Verfehlung. Dafür ist er sogar vor Gericht gezogen. Am Donnerstag erlitt er einen Rückschlag vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg (Urt. v. 04.04.2024, Az. 6 B 18/22).
Handelt der Bundespräsident als Behörde?
Der 6. OVG-Senat wies Semsrotts Klage auf Auskunftserteilung auch in zweiter Instanz ab und stützt sich dabei auf die gleiche – umstrittene – rechtliche Differenzierung wie zuvor das Verwaltungsgericht (VG) Berlin: "Der Bundespräsident handele bei der Ausübung des Begnadigungsrechts nicht als Behörde, sondern nehme als Verfassungsorgan ihm eingeräumte verfassungsrechtlichen Befugnisse wahr", teilte das OVG am Donnerstagnachmittag mit.
Die Rechtsfolge: Ein Anspruch auf Auskunftserteilung ist ausgeschlossen. Denn die Presse kann Auskünfte nur von Behörden verlangen. Gegenüber Landesbehörden ergibt sich das aus den Landespressegesetzen. Gegenüber Bundesbehörden fehlt eine solche Norm. Neben den Jedermannsrechten auf Zugang zu staatlichen Informationen – insbesondere nach dem Informationsfreiheitsgesetz – steht der Presse ein Auskunftsanspruch zu. Den leiten die Verwaltungsgerichte unmittelbar aus der Pressefreiheit, also aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG, her.
Rechtlich entscheidend ist also: Handelt eine staatliche Stelle bei der jeweiligen Tätigkeit in der Funktion als Verwaltungsbehörde oder in der als Verfassungsorgan? Dass von der Antwort auf diese Frage abhängen soll, ob die Presse Auskunft erhält oder nicht, halten Semsrott und sein Rechtsanwalt Sebastian Sudrow (BKP Rechtsanwälte) für den Kern des Problems. "Das ist eine Eigenheit der deutschen Rechtsprechung. Aus Sicht von Journalisten ist diese Unterscheidung völlig unverständlich", sagte Sudrow in der Verhandlung am Donnerstag in Berlin.
Doch auch einige ausgebildete Juristen dürften Schwierigkeiten damit haben, die Grenze zwischen diesen beiden Funktionen zu ziehen. Das fünfzehnseitige Urteil des VG Berlin hilft dabei auch nur bedingt weiter. Der entscheidende Teil der Begründung postuliert: "Mit dem Begnadigungsrecht übt der Bundespräsident eine Gestaltungsmacht besonderer Art aus, welche nicht den Sicherungen, den Gewaltenverschränkungen und -balancierungen unterliegt, die gewährleisten sollen, dass Übergriffe der Exekutive durch Anrufung der Gerichte abgewehrt werden können". Mit dem zweiten Teil des Satzes werden nur Rechtsfolgen beschrieben, er trägt zur Begründung nichts bei.
BVerfG: Gnadenentscheidungen sind nicht überprüfbar
Entscheidend ist vielmehr, was eine "Gestaltungsmacht besonderer Art" ist. Diese Formulierung stammt aus einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23. April 1969 (Az. 2 BvR 552/63). Damals urteilte Karlsruhe denkbar knapp – mit vier zu vier Stimmen –, dass der Bundespräsident das Gnadenrecht im freien politischen Ermessen ausübt und seine Entscheidung gerichtlich nicht überprüfbar ist.
An diesem Zustand stört sich nicht nur Arne Semsrott, auch aus der Rechtswissenschaft gibt es Kritik. Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven kritisiert, dass sich das Staatsoberhaupt hier über ein strafgerichtliches Urteil "hinwegsetzt" – ein Urteil, "das ein Gericht in einem rechtsstaatlichen Verfahren gefällt hat". Sie sieht in dem Gnadenrecht ein "antiquiertes Majestätsrecht, das abgeschafft gehört". Auch präsentiert Rechtsanwalt Sudrow rechtswissenschaftliche Literatur, die die Ausübung des Gnadenrechts als Verwaltungshandeln ansieht, womit die Tür zu den begehrten Auskünften zumindest theoretisch offen stünde.
Doch davon ließ sich das OVG nicht überzeugen – verständlich, wenn die Unterscheidung ständiger Rechtsprechung entspricht und dafür auch ein Beschluss des BVerfG spricht. Ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Verfassungshandeln aber überzeugt, ist offen. Semsrott erhofft sich von einem dort anhängigen Verfahren ein Grundsatzurteil.
Der EGMR hat nämlich eine Beschwerde des Tagesspiegel-Journalisten Jost Müller-Neuhof auf dem Tisch – ein Verfahren, dem ein ganz ähnliches Auskunftsverlangen zugrunde liegt: Der Tagesspiegel-Journalist hatte bei der Bundestagsverwaltung vergeblich statistische Informationen über Immunitätsverfahren gegen Parlamentarier erfragt. Anlass war der Fall des früheren SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy, gegen den wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften und Videos ermittelt wurde.
OVG will nicht auf den EGMR warten
Semsrotts Anwalt sieht in der bisherigen Rechtsprechung des EGMR zur Informations- und Pressefreiheit keine Anhaltspunkte für die von den deutschen Gerichten vorgenommene Differenzierung zwischen verwaltungsbehördlichem Handeln und dem politischen Handeln als Verfassungsorgan. Der EGMR entscheide in Verfahren über Auskunftsansprüche nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vielmehr nur danach: Besteht ein öffentliches Interesse an der Information und sind schutzwürdige Interessen betroffen? "Ich hoffe, dass der EGMR dieser deutschen Rechtsprechung ein Ende bereitet", so Sudrow.
Daher hatte er zu Beginn der Verhandlung am Donnerstag auch einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gestellt – bis der EGMR über die Beschwerde des Tagesspiegel-Journalisten entschieden hat. So lange warten wollten die OVG-Richter jedoch nicht. "Das Gericht neigt nicht dazu, Ihrem Antrag auf Aussetzung stattzugeben", ließ der Vorsitzende Richter Dr. Axel Schreier am Donnerstag in der Verhandlung schon früh verlauten. Dies begründete er unter anderem damit, dass die EMRK unter dem Rang des Grundgesetzes stehe und EGMR-Entscheidungen die deutschen Gerichte nicht binden.
Außerdem hänge der Fall von vielen weiteren Rechtsfragen ab: Ist Arne Semsrott überhaupt Journalist, also kann er sich auf den presserechtlichen Auskunftsanspruch berufen? Ist der Anspruch erfüllbar: Kann das Bundespräsidialamt mit verhältnismäßigem Aufwand die begehrten Informationen überhaupt zusammentragen? Und: Stehen dem Auskunftsbegehren schutzwürdige Interessen der begnadigten Personen entgegen? Die Persönlichkeitsrechte? Der Vertreter des Bundespräsidialamtes wies immer wieder auf den Datenschutz der Betroffenen hin. Über eine Stunde lang verhandelten die Beteiligten alle diese Fragen.
Nach so tiefgehender Erörterung hätte man sich vorstellen können, dass das OVG diese Fragen für streitentscheidend hält. Doch nun ließ es die Klage – wie bereits das VG – ebenfalls daran scheitern, dass der hier in Anspruch genommene Bundespräsident nicht als Behörde handele. Dass das OVG die Revision nicht zugelassen hat – mangels grundsätzlicher Bedeutung des Falles –, ist da nur konsequent. Denn es hat ja nur die in der Rechtsprechung anerkannte Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Verfassungshandeln fortgeführt und – mit dem Segen einer 55 Jahre alten BVerfG-Entscheidung – auf das Gnadenrecht angewendet.
Könnte ein AfD-Bundespräsident heimlich Beate Zschäpe begnadigen?
Sudrow findet das schade: "Das Verfahren hat zahlreiche grundsätzliche Rechtsfragen aufgeworfen. Es ist bedauerlich, dass das OVG davor zurückgeschreckt ist, die meisten von ihnen zu klären. Nach Erhalt der Urteilsgründe wolle man prüfen, ob eine Nichtzulassungsbeschwerde erhoben wird – "gerade angesichts des noch laufenden EGMR-Verfahrens in ähnlicher Sache".
Auch Semsrott selbst ist enttäuscht. Er verweist auf den Fall eines rechtsextremen Bundespräsidenten: "In Hinblick auf einen möglichen Bundespräsidenten von Gnaden der AfD wird es nach diesem Urteil keine öffentliche Kontrolle durch die Presse geben." Bereits in der Verhandlung hatte Sudrow eine solche Drohkulisse aufgebaut: Könnte etwa Beate Zschäpe einfach so begnadigt werden, ohne dass die Welt das erführe?
Richter Schreier zweifelte: "Das würde man schon mitbekommen." Nur wie – wenn die Betroffenen nicht selbst an die Öffentlichkeit gehen? Diese Frage bleibt auch nach dem Urteil am Donnerstag offen.
Hinweis: Im Text hieß es zunächst unzutreffend, der Frank-Walter Steinmeier habe in seiner ersten Amtszeit 15 Personen begnadigt. Nachträglich präzisiert wurden auch die Zuständigkeit des Bundespräsidenten und die Rechtsfolgen der Begnadigung (Red. 05.04.2024, 12:30 Uhr).
Transparenzhinweis: Autor:innen von FragDenStaat veröffentlichen bei LTO regelmäßig eine Gastkolumne unter dem Titel "Akteneinsicht".
"FragDenStaat" scheitert mit Auskunftsklage: . In: Legal Tribune Online, 04.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54255 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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