BGH zur StPO: Neben­kläger darf den Frei­spruch wollen

von Hasso Suliak

05.10.2020

Opfer schwerer Straftaten oder ihre Angehörigen können im Strafprozess als Nebenkläger auftreten. Dass sie dabei nicht zwingend an einer Verurteilung des Angeklagten interessiert sein müssen, hat jetzt der BGH entschieden.

Die Rolle des Nebenklägers ist nach den §§ 395 ff. Strafprozessordnung (StPO) klar definiert. Verletzte einer schweren Straftat oder Angehörige etwa eines Mordopfers, die sich nach § 395 StPO oder § 80 Abs.3 Jugendgerichtsgesetz (JGG) der "erhobenen öffentlichen Klage" der Staatsanwaltschaft als sogenannte Nebenkläger anschließen, haben in aller Regel ein Interesse daran, dass die Tat rückhaltlos aufgeklärt und der strafrechtlich Verantwortliche dafür angemessen zur Rechenschaft gezogen wird.

Manchmal allerdings kommt es auch anders: Und zwar dann, wenn sich das Verbrechensopfer nicht etwa die Verurteilung, sondern den Freispruch des Angeklagten wünscht. Auch dann, so hat der Bundesgerichtshof (BGH) jetzt in einem am Freitag veröffentlichten Beschluss klargestellt, kommt er als Nebenkläger in Betracht (Beschl. v. 01.09.2020, Az. 3 StR 214/20). Eine anderslautende Entscheidung des Landgerichts (LG) Koblenz hob der BGH auf.

Im zugrundliegenden Fall ging es um einen Jugendlichen, der wegen Mordversuchs in zwei Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vom LG zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt worden war. Im Alter von 14 Jahren hatte er versucht, seine schlafenden Pflegeeltern zu erstechen und diese dabei erheblich verletzt. Die Pflegeeltern hatten bereits vor der Anklageerhebung erklärt, sich dem Verfahren als Nebenkläger anzuschließen und waren zunächst auch von der Strafkammer des LG im Eröffnungsbeschluss als anschlussberechtigt angesehen worden.

Nebenkläger wollen Freispruch, dem Gericht reicht es

Nachdem sie dann jedoch in der Hauptverhandlung eine Reihe von Anträgen stellten, die an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ihres Pflegekindes nach § 3 JGG Zweifel weckten und letztlich einen Freispruch des Kindes erreichen sollten, platzte der Koblenzer Strafkammer die Hutschnur: Kurzerhand hob sie den Beschluss über die Zulassung der Nebenklage auf und beteiligte die Pflegeeltern am weiteren Verfahren nicht mehr.

Zur Begründung führten die LG Richter aus, dass die Nebenkläger erkennbar das Ziel verfolgten, einen Freispruch des Angeklagten zu erreichen. Damit fehle es an den gesetzlichen Voraussetzungen der Nebenklage.

In der Vergangenheit hatten vor allem Oberlandesgerichte (OLG) immer wieder die Rechtsauffassung vertreten, dass Nebenkläger im Strafprozess nur sein könne, wer auch auf die Bestrafung des Angeklagten erpicht ist. So hatte etwa das OLG Rostock im Jahr 2012 entschieden, dass der Anschluss eines sogenannten "verteidigenden Nebenklägers" an die öffentliche Klage nicht zulässig sei. Der Nebenkläger, der erklärtermaßen dafür eintrete, dass der nach seiner Auffassung unschuldige Angeklagte freigesprochen werde, verneine selbst seine Verletzteneigenschaft und entziehe damit seiner Anschlusserklärung die verfahrensrechtliche Grundlage (Beschl.v. 26.03.2012, Az. I Ws 77/12).

Dieser Auffassung, mit der offenbar auch das LG Koblenz sympathisierte, widersprach der BGH nun allerdings deutlich und stärkte damit auch die Rolle des Nebenklägers im Strafprozess: Der Wortlaut von § 395 Abs.1 StPO bzw. § 80 Abs.3 S. 1 JGG definiere kein bestimmtes Ziel des Nebenklägers, das dieser erstreben müsse. Auch sehe das Gesetz keinen Fall vor, wonach eine zunächst berechtigte Nebenklage je nach Verfahrensziel unzulässig werde. Im Gegenteil: Nach § 397 StPO stünden Nebenklägern diverse Verfahrensrechte zu (z.B. Fragen und Beweisanträge zu stellen), ohne dass diese mit Blick auf einen bestimmten Zweck begrenzt seien.

BGH: "Selbstständige Stellung" des Nebenklägers ignoriert

Auch die Formulierung in § 395 StPO und § 80 Abs. 3 JGG, wonach sich der Nebenkläger der Klage der Staatsanwaltschaft "anschließt", habe nicht die Verpflichtung des Nebenklägers zur Folge, die Ansicht der Anklage zu vertreten und daran sogar noch ungeachtet der Erkenntnisse der Hauptverhandlung festzuhalten. Der Nebenkläger befinde sich in einer "selbstständigen Stellung", die ihm die Möglichkeit biete, "auf eine sachgerechte Ausübung der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Amtsaufklärungspflicht hinzuwirken".

Hierzu gehöre, durch Erklärungen, Fragen, Anträge und gegebenenfalls Rechtsmittel auf das Verfahrensergebnis einzuwirken, seine Sicht der Tat und der erlittenen Verletzungen einzubringen und seine Interessen aktiv zu vertreten, so der BGH. In welcher Weise der Verletzte seine Belange am besten geschützt sieht, unterliege infolge seiner Stellung als ein mit selbständigen Rechten ausgestatteter Prozessbeteiligter regelmäßig seiner eigenen Einschätzung.

Opferschutzgesetz von 1986 als Paradigmenwechsel

Weiter erinnerte der BGH das LG auch an längst erfolgte gesetzliche Änderungen zur Nebenklage. So habe das Opferschutzgesetz aus dem Jahr 1986 (BGBl. S.2496) dazu geführt, dass die frühere Vorstellung von der im Nebenklageverfahren "doppelt besetzten Anklagerolle" aufgegeben wurde und seither nicht mehr maßgeblich sei, dass die Nebenklage ihrem Wesen nach auf die Bestrafung des Täters abziele.

Das Opferschutzgesetz läutete eine Art Paradigmenwechsel ein, mit dem der Gesetzgeber einräumte, dass das überkommene Straf- und Strafverfahrensrecht die Position des Verletzten vernachlässigt und seine eigenhändige Rolle im Strafprozess nicht hinreichend berücksichtigt habe. Bis 1986 orientierte sich die Rolle des Nebenklägers noch an der Zielrichtung der Reichsstrafprozessordnung von 1879. Danach hatte das Strafverfahren ausschließlich der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu dienen. Und dem Verletzen räumte der Gesetzgeber die Beteiligung am Hauptverfahren nur deshalb ein, weil und soweit er für die Durchsetzung dieses Anspruchs nützlich war.

Strafrechtler begrüßen BGH-Beschluss

Von LTO befragte Strafrechtler begrüßten die Entscheidung des BGH. "Dass der Nebenkläger stets als eine Art Hilfsstaatsanwalt auf eine Verurteilung des Angeklagten hinarbeiten müsste, sagt das Gesetz nicht; vielmehr ist der Nebenkläger autonomer Prozessbeteiligter, der seine Ziele im Verfahren nach seinen eigenen Interessen verfolgen kann", sagt der Kölner Strafrechtsprofessor Dr. Thomas Weigend.

Auch der Augsburger Hochschullehrer Prof. Dr. Michael Kubiciel bewertete den Beschluss positiv: Die Entscheidung sei "gut begründet" und sie füge sich in die grundlegende Systematik des Strafverfahrensrecht ein. Die Nebenklage sei keinem Ziel verpflichtet, sondern könne entscheiden, welche Verfahrensziele sie sich stecke und diese - bis zur Grenze der Rechtsmissbräuchlichkeit - auch mit entsprechenden prozessualen Mitteln, wie etwa Beweisanträgen, verfolgen.

Das LG Koblenz bekommt vom BGH jetzt erst einmal alle Verfahrensunterlagen zurück. Den Pflegeltern, die wie ihr Pflegesohn eine Revision des Urteils anstreben, muss jetzt in ihrer Eigenschaft als Nebenkläger unter anderem erst einmal das erstinstanzliche Urteil ordnungsgemäß zugestellt werden - und zwar auf Grundlage der im Jahr 2020 gültigen Strafprozessordnung.

Zitiervorschlag

BGH zur StPO: . In: Legal Tribune Online, 05.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43008 (abgerufen am: 01.11.2024 )

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