Kurz nach den Al-Qaida-Anschlägen vom 11. September 2001 rief die Nato den Bündnisfall aus. Er wurde jedoch nie aufgehoben. Christian Rath beleuchtet, welche Bedeutung dieser Beschluss heute noch hat.
Der Nato-Bündnisfall wurde in der Geschichte des Bündnisses bisher nur ein einziges Mal festgestellt: nach den Al-Qaida-Anschlägen von 2001. Bereits am 12. September, dem Tag nach den Anschlägen, stellte der Nato-Rat das Ausrufen des Bündnisfalls in Aussicht - falls feststehe, dass die Angriffe auf die USA vom Ausland ausgeführt wurden. Am 2. Oktober legten die USA Beweise für die Urheberschaft von Al Qaida vor. Am 4. Oktober 2001 beschloss der Nato-Rat dann einstimmig den Bündnisfall.
Initiiert wurde der Beschluss nicht von den USA, sondern vom britischen Nato-Generalsekretär George Robertson. Insbesondere die europäischen Mitglieder der Nato wollten ihre Solidarität beweisen.
Laut Artikel 5 des Nato-Vertrags löst die Feststellung des Bündnisfalls aber keine automatischen und eindeutig beschriebenen Folgen aus. Er verpflichtet zwar jeden Mitgliedstaat des Bündnisses zum Beistand, aber nur zu Maßnahmen, die der Staat selbst "für erforderlich achtet".
Keine Aufhebung des Bündnisfalls
Heute, zwanzig Jahre später, ist der Nato-Bündnisfall immer noch in Kraft. Zumindest wurde er nicht aufgehoben. "Die Ausrufung des Bündnisfalls ist ein Ausdruck der Solidarität", erklärte das Verteidigungsministerium auf Anfrage. "Eine formale Beendigung erfolgt entsprechend nicht."
Das sah die deutsche Politik bisher aber anders. Im Bundestag gab es schon drei parlamentarische Initiativen, den Nato-Bündnisfall wieder aufzuheben. Bereits 2002 stellte die PDS (Vorgängerpartei der Linken) einen entsprechenden Antrag (BT-Drucksache 14/8664). 2012 griffen die Grünen den Gedanken wieder auf (BT-Drucksache 17/11555), 2013 ebenso die Linke (BT-Drucksache 18/202).
Die größte Zustimmung erlangten die Grünen. Ihrem Antrag stimmten die damaligen Oppositionsparteien SPD und Linke zu, allerdings ohne parlamentarische Debatte und ohne öffentlichen Widerhall. Die Anträge der Linken blieben jeweils ohne fremde Unterstützung, wurden im Bundestag aber immerhin mehr oder weniger gründlich diskutiert.
Beendigung des gegenwärtigen Angriffs?
Die Linke stellte in ihrem Antrag von 2013 drei Wege zur Beendigung des Bündnisfalles zur Debatte: Erstens solle die Bundesregierung aufgefordert werden, einen entsprechenden Vorschlag in den Nato-Rat einzubringen, damit dieser die Aufhebung des Bündnisfalls beschließe. Falls das nicht zum Ziel führe, könne die Bundesregierung den Bündnisfall auch einseitig für Deutschland "als beendet" erklären.
Außerdem vertrat die Linke die These, dass der Bündnisfall nur so lange gelte, wie er von einem "Konsens" der Mitgliedstaaten getragen werde. Demnach würde eine einseitige Aufkündigung des Konsenses den Bündnisfall für alle Nato-Staaten entfallen lassen.
Die Linke argumentierte dabei vor allem völkerrechtlich. Beim Bündnisfall löse ein "gegenwärtiger Angriff" ein kollektives Selbstverteidigungsrecht aus. Deshalb müsse der Bündnisfall nach Beendigung des gegenwärtigen Angriffs auch wieder aufgehoben werden.
"Außenpolitisch falsches Signal" durch einseitige Beendigung des Bündnisfalls?
Bei der ersten Debatte 2002 wiesen die anderen Fraktionen aber schon die Annahme zurück, dass sich die Lage seit 9/11 fundamental geändert habe. Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus bestehe vielmehr unverändert fort. Als Beleg galt damals vor allem der islamistische Anschlag auf eine Synagoge auf der tunesischen Insel Djerba, der kurz zuvor stattgefunden hatte. Bei diesem Anschlag starben 19 Touristen, davon 14 aus Deutschland.
2014 fanden dann aber auch SPD und Grüne, dass der Bündnisfall nach 13 Jahren eigentlich überholt sei. Nur der CDU-Verteidigungspolitiker Ingo Gädechens bemerkte, es gebe "keinen Grund zur Entwarnung" und verwies nun auf das wachsende Gewicht radikaler Islamisten in Syrien.
Einig waren sich CDU/CSU, SPD und Grüne jedoch, dass eine einseitige Beendigung des Bündnisfalls durch Deutschland ein außenpolitisch falsches Signal wäre. Deutschland dürfe sich nicht isolieren und solle nicht die Partner vor den Kopf stoßen. "Der Bündnisfall wurde gemeinsam festgestellt; folglich sollte er auch gemeinsam für beendet erklärt werden", erklärte der SPD-Abgeordnete Thomas Hitschler.
Auswärtiges Amt: Keine Veranlassung zu neuem Beschluss
Das Anliegen der Linken wurde aber auch deshalb skeptisch betrachtet, weil man die grundsätzliche Anti-Nato-Haltung der Fraktion nicht unterstützen wollte. Die Linke ließ in den Debatten auch keinen Zweifel, dass ihr eigentliches Ziel die Auflösung der Nato sei.
Keinerlei Rolle spielte im Bundestag die nun vom Verteidigungsministerium vertretene Position, dass der Bündnisfall gar keine formale Beendigung benötige.
Dies ist auch nicht die Haltung der gesamten Bundesregierung. Aus dem Auswärtigen Amt war auf die Frage nach dem Fortdauern des Bündnisfalls zu hören: "Kein Nato-Partner hat bisher Veranlassung gesehen, einen neuen Beschluss diesbezüglich zu fassen."
Wenig militärpolitische Bedeutung
Doch welche rechtlichen Folgen hat der Bündnisfall heute noch? Hierbei ist die außen- und innenpolitische Lage zu unterscheiden.
Außenpolitisch führt die Feststellung des Bündnisfalls zu keinem Automatismus. Er verpflichtet die Nato-Staaten nicht zu einer bestimmten militärischen Reaktion. Sie behalten vielmehr ihre volle nationale Souveränität und können frei entscheiden, an welchen militärischen Maßnahmen sie sich beteiligen.
Die militärische Reaktion auf die 9/11-Anschläge beruhte nur begrenzt auf dem Nato-Bündnisfall. Die von den USA geführte Operation Enduring Freedom (OEF) wurde auf die UN-Resolution 1368 vom 12. September 2001 gestützt und die International Security Assistance Force (ISAF) beruhte auf UN-Resolution 1386 vom 20. Dezember 2001. Auf den Bündnisfall stützte sich vor allem die Operation Active Endeavour (OAE) zur maritimen Sicherheit im Mittelmeer.
Die OAE dauerte vom 26. Oktober 2001 bis zum 15. Juli 2016. Sie wurde bis zuletzt auf den Nato-Bündnisfall gestützt. Es handelte sich um einen der längsten Auslandseinsätze der Bundeswehr. Auch in den entsprechenden Mandaten des Bundestags wurde bis zuletzt der Nato-Bündnisfall erwähnt (z.B. BT-Drucksache 18/6742).
Das Beispiel zeigt auch die begrenzte militärpolitische Bedeutung des Bündnisfalls. Denn letztlich benötigt jeder Auslandseinsatz der Bundeswehr ein eigenes Mandat der Abgeordneten – völlig unabhängig davon, ob er im Zusammenhang mit dem Bündnisfall steht oder nicht. Entscheidend ist also das Bundestags-Mandat, nicht der Bündnisfall. Die parlamentarische Kontrolle war durch den Bündnisfall keineswegs eingeschränkt. Der Bundestag hätte die Bundeswehr jederzeit aus dem Nato-Einsatz zurückziehen können.
Halbtotes Relikt aus der Vergangenheit
Auch innenpolitisch ist der Bündnisfall weniger bedeutsam als er scheint. Zwar sieht Art. 80a Abs. 3 Grundgesetz (GG) vor, dass der Beschluss eines Militärbündnisses die Anwendung von deutschen Notstandsgesetzen wie dem Ernährungssicherstellungsgesetz oder dem Verkehrssicherstellungsgesetz erlauben kann. Ausreichend ist hierfür bereits die Zustimmung der Bundesregierung zu dem Bündnisbeschluss. Für die Feststellung des deutschen Verteidigungs- oder Spannungsfalls hingegen wäre laut Art. 115a bzw. Art. 80a Abs. 1 GG jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestags erforderlich.
Die Bedeutung des Bündnisfalls ist aber mehrfach begrenzt. So erlaubt ein Bündnis-Beschluss gemäß Art. 80a Abs. 3 GG keine Einsätze der Bundeswehr im Innern. Denn in Art. 87a Abs. 3 GG sind ausdrücklich nur Verteidigungs- und Spannungsfall erwähnt, nicht aber der Bündnisfall.
Außerdem sind viele Notstandsgesetze auch an immanente Tatbestandsvoraussetzungen gebunden, die nach 2001 nicht gegeben waren. So wäre etwa für die Anwendung des Ernährungssicherstellungsgesetzes die Feststellung einer "Versorgungskrise" durch die Bundesregierung erforderlich gewesen.
Und schließlich heißt es in Art. 80a Abs. 3 GG, die Entsperrung der Notstands-Vorschriften erfolge nur "nach Maßgabe" eines Bündnisbeschlusses. Die Feststellung des Bündnisfalls allein genügt hierfür also nicht, vielmehr ist ein spezifischer Bündnisbeschluss erforderlich. Gedacht ist dabei an eine innere Teilmobilmachung im Sinne der Nato-Alarmplanung. Dies sah schon der historische Gesetzgeber so, als er Art. 80a als Teil der umstrittenen Notstandsverfassung im Jahr 1968 ins GG einfügte (vgl. BT-Drucksache 5/2873, S. 12). Der Nato-Beschluss von 2001 hatte jedoch keine derartige innenpolitische Komponente. Auch deshalb bestand nie die Möglichkeit (bzw. die Gefahr), den Bündnisfall innenpolitisch zu nutzen (bzw. zu missbrauchen).
Der Nato-Bündnisfall von 2001 ist also ein halbtotes Relikt aus der Vergangenheit. Niemand weiß, wie man ihn wieder los wird. Bei der nächsten derartigen Entscheidung im Nato-Rat wird man sich sinnvollerweise gleich auf eine Befristung (mit Verlängerungsmöglichkeit) verständigen.
Beistands-Beschluss der Nato von 2001: . In: Legal Tribune Online, 07.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45929 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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