Die Maschine der Malaysian Airlines wurde wohl über der Ukraine abgeschossen – vermutlich von prorussischen Separatisten. 298 Menschen starben. Ihr Leben kann man nicht in Geld aufwiegen. Mit der Klage, die sie heute beim EGMR einreichen, möchten drei Angehörige der Opfer aber auch verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Ihr Anwalt Elmar Giemulla erklärt, wie man die Ukraine belangen kann.
LTO: Sie vertreten Verwandte der Opfer des mutmaßlich über der Ukraine abgeschossenen Fluges MH17 der Malaysia Airlines. Herr Professor Giemulla, wer genau sind Ihre Mandanten?
Giemulla: Ich vertrete die Angehörigen von drei der vier Deutschen, die an Bord waren. Zwei der Opfer waren miteinander verlobt. Die eine Familie wohnt in Deutschland, die andere in Kanada. Die dritte Person war die Mutter meines in Australien lebenden Mandanten.
LTO: Für Ihre Mandanten fordern Sie Schadensersatz von der Ukraine. Wieviel genau fordern Sie für jedes verlorene Menschenleben?
Giemulla: Es geht ja darum, dass der Schadensersatz das reflektiert, was da passiert ist. Das ist natürlich eine Ermessensfrage des Gerichts, insofern können wir lediglich einen Vorschlag machen. Da ist eine Million genauso falsch und richtig wie zehn Millionen, denn den Wert eines Menschen kann man nicht in Geld aufwiegen.
Neben der Ausgleichsfunktion steht vielmehr die zweite Funktion des Schadensersatzes im Vordergrund, nämlich seine präventive Wirkung für die Zukunft. Durch die Höhe des Schadensersatzes soll klargestellt werden, dass es durchaus im Interesse des Landes ist, solche Katastrophen in Zukunft zu vermeiden, indem es seinen Luftraum sperrt. Das gilt nicht nur für die Ukraine, sondern für alle anderen Länder, in denen es Krisengebiete gibt, so etwas also ebenfalls passieren könnte. Das macht es auch für die Angehörigen leichter: Durch die Klage können Sie alles dafür tun, dass so etwas nicht noch einmal passiert.
Insofern kann man keine kleinen Summen fordern, weil sowas dann als Lappalie unter "ferner liefen" abgehakt wird. Für europäische Verhältnisse sind wir also hoch eingestiegen und fordern eine Million für jede verstorbene Person.
"Die Ukraine ist verpflichtet, Menschen vor Angriffen Dritter zu schützen"
LTO: Woraus genau machen Sie den Anspruch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geltend?
Giemulla: Die Ukraine ist ja 1997 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beigetreten. Damit hat sie sich nicht nur verpflichtet, es zu unterlassen, Menschen aktiv zu verletzten oder gar zu töten, sondern auch dazu, alles daran zu setzen, damit Menschen, die sich in ihrem Staatsgebiet aufhalten, nichts widerfährt. Der Staat hat eine Pflicht, alle Menschen – also nicht nur die eigenen Bürger – vor Angriffen durch Dritte zu schützen.
Eine entsprechende Haltung des Gerichtshofes zeigen auch andere Verurteilungen: Beispielsweise wurde bereits ein Staat verurteilt, Kompensation zu leisten, weil jemand im Land getötet wurde, obwohl es Anhaltspunkte dafür gab, dass er bedroht wurde. Der Vorwurf lautete, dass man ihm keinen Polizeischutz zur Verfügung gestellt hatte.
LTO: Zum Staatsgebiet im Sinne der EMRK gehört auch der Luftraum darüber?
Giemulla: Richtig. Es ist unstreitig, dass bis zu einer Höhe von mindestens 60 km der Luftraum zum Staatsgebiet zählt – und damit dort die üblichen staatlichen Schutzpflichten gelten.
Die Ukraine hat zwei internationale Abkommen über den Luftverkehr unterzeichnet. Diese begründen Rechtspflichten zum Handeln. Die Regierung hätte also den Abschuss der Maschine durch die Separatisten verhindern müssen. Das ist vergleichbar mit der Figur der Garantenstellung aus dem deutschen Strafrecht – es geht um die Frage der Tötung durch Unterlassen. Die Anspruchsgrundlage findet sich in Art. 2 EMRK, der das Recht auf Leben schützt und daran in Art. 41 EMRK eine Schadensersatzpflicht knüpft.
"Die Ukraine wusste, dass sie die Kontrolle über ihren Luftraum verloren hatte"
LTO: Welche Abkommen sind dies genau?
Giemulla: Beide Abkommen stammen aus dem Jahr 1944. Zum einen hat die Ukraine 1996 das internationale Luftfahrt-, auch Chicagoer Abkommen genannt, unterzeichnet. Damit ist sie Mitglied der internationalen Luftfahrt-Gemeinde geworden, also der internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) – das sind mittlerweile 191 Staaten. Im Jahr 1997 hat die Regierung in Kiew auch das Transit-Abkommen unterzeichnet, dem mittlerweile 150 Staaten beigetreten sind.
Diese Staaten haben sich verpflichtet, ihren jeweiligen Luftraum für die anderen Staaten zu öffnen. Diese müssen also keine Durchflugerlaubnis mehr beantragen, um über das Land zu fliegen. Natürlich muss man das administrativ abwickeln, man muss einen Flugplan herausgeben, damit die Flugsicherung des jeweiligen Staates weiß, wann man fliegt.
Erst wenn man den Luftraum öffnet, kann man auch überhaupt von internationalem Luftverkehr reden. Dann ist völlig klar, dass der Luftraum auch sicher gehalten werden muss – sonst funktioniert der internationale Luftverkehr überhaupt nicht. Aus den Verträgen ergibt sich damit ebenfalls die Verpflichtung, den Luftraum zu sichern. Derzeit gerät das gesamte System des internationalen Luftraums in Gefahr, weil sich die Fluggesellschaften offensichtlich nicht mehr auf die Funktionsfähigheit vieler Staaten verlassen können.
Die Ukraine wusste, dass ein Teil ihres Staatsgebietes und damit auch der Luftraum unsicher waren, dass sie darüber völlig die Kontrolle verloren hatte. Das allein kann man ihr nicht vorwerfen, denn das passiert auf der Welt leider recht häufig – zurzeit sowieso. Wenn aber so etwas passiert, dann müssen die notwendigen Konsequenzen gezogen, der betroffene Teil des Luftraumes also gesperrt werden. Diese Verpflichtung hat Kiew verletzt und dadurch wurden Menschen getötet. Dass die Ukraine den Flug dennoch zugelassen hat, liegt wohl daran, dass man die Überfluggebühren kassieren wollte.
Anne-Christine Herr, Interview zur Angehörigen-Klage der MH 17-Opfer : . In: Legal Tribune Online, 17.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13825 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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