Wahlrecht für Menschen mit Behinderung: In vier Jahren dabei?

von Annelie Kaufmann

15.09.2017

Wenn am 24. September gewählt wird, dürfen 84.000 Menschen nicht ihre Stimme abgeben – weil sie eine Behinderung oder eine psychische Erkrankung haben. Eigentlich wollte die Große Koalition längst eine Neuregelung schaffen.

Behindertenverbände kritisieren den Ausschluss vom Wahlrecht seit langem, die Parteien sind sich weitgehend einig, beim Bundesverfassungsgericht liegt seit vier Jahren eine Wahlprüfungsbeschwerde. Passiert ist seit der Bundestagswahl 2013 dennoch wenig. Aber bis 2021 könnte sich das ändern.

Gemäß § 13 Bundeswahlgesetz (BWG) sind Menschen, für die in allen Angelegenheiten ein Betreuer bestellt ist, vom Wahlrecht ausgeschlossen; ebenso Straftäter, die bei Begehung der Tat schuldunfähig waren und deshalb in der Psychiatrie untergebracht sind. Behindertenverbände kritisieren die Regelung seit langem. Nach der Bundestagswahl 2013 haben acht Betroffene mit Unterstützung der Bundesvereinigung Lebenshilfe und des Bundesverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) Einspruch erhoben, der vom Bundestag zurückgewiesen wurde. Die Betroffenen haben dagegen Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erhoben.

Normalerweise entscheidet das BVerfG innerhalb einer Wahlperiode, damit die Fragen für die nächste Bundestagswahl geklärt sind. Dazu kam es nicht, aber es wird erwartet, dass sich die Karlsruher Richter noch in diesem Jahr damit befassen. "Wir hoffen jetzt auf eine Entscheidung bald nach der Wahl, sodass die nächste Regierung darauf reagieren und die Wahlrechtsausschlüsse aus dem Bundeswahlgesetz streichen kann," sagt Dr. Bettina Leonhard, die bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe das Referat Recht leitet und die Wahlprüfungsbeschwerde zusammen mit der CBP und den Anwälten der Beschwerdeführer betreut.

"Ich vermute, dass man beim Bundesverfassungsgericht die Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales abwarten wollte," so Leonhard. Die ist im Juli 2016 erschienen. "Das war dann schon recht knapp, Gesetzgeber und Verwaltung brauchen ja einigen Vorlauf, um eine neue Regelung umzusetzen."

Bayerische Gerichte ordnen besonders häufig die Betreuung an

Immerhin liegt damit nun eine umfassende Datengrundlage vor. Sie zeigt, dass das Problem größer ist als zunächst angenommen. Während die Behindertenverbände die Zahl der Betroffenen vor einigen Jahren noch auf rund 10.000 geschätzt hatten, kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass tatsächlich rund 84.000 Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind – rund 81.000 werden in allen Angelegenheiten betreut, rund 3.000 sind wegen einer schuldunfähig begangenen Straftat in Psychiatrien untergebracht.

Dabei gibt es große regionale Unterschiede: In Bayern werden Menschen 26-mal so häufig in allen Angelegenheiten unter Betreuung gestellt wie in Bremen. Betreut werden Menschen mit geistiger Behinderung, Demenz oder psychischen Erkrankungen, angeordnet wird die Betreuung von einem Betreuungsrichter.

Der Greifswalder Professor für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht Heinrich Lang kommt in der BMAS-Studie zu dem Ergebnis, dass der Wahlrechtsausschluss verfassungsgemäß sei, schließlich habe ein Richter zuvor im Einzelfall geprüft, ob die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten angemessen ist. Wenn im betreuungsgerichtlichen Verfahren festgestellt werde, dass der Betroffene entscheidungsunfähig sei, könne man auch darauf schließen, dass er keine Wahlentscheidung treffen könne.

Leonhard von der Bundesvereinigung Lebenshilfe widerspricht dem: "Im Betreuungsrecht geht es darum, welchen Unterstützungsbedarf der Betreute in welchen Bereichen hat. Das ist sehr individuell und sagt nichts darüber aus, welche Fähigkeiten ein Mensch hat." So komme es etwa vor, dass eine Betreuung in medizinischen Angelegenheiten angeordnet wird, weil über bestimmte Therapien bei einer Krebserkrankung entschieden werden muss. "Das sind sehr komplexe Fragen und Risiken, das verstehen Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Regel nicht", erklärt Leonhard. "Trotzdem kann der gleiche Betreute ohne seinen Betreuer zum Arzt gehen, wenn er sich den Arm gebrochen hat und einen Gips braucht. Hier ist er einwilligungsfähig, denn das ist für ihn verständlich." Mit dem betreuungsrechtlichen Verfahren sei also gerade nichts darüber gesagt, ob die Betreuten eine Wahlentscheidung treffen können.

Zitiervorschlag

Annelie Kaufmann, Wahlrecht für Menschen mit Behinderung: . In: Legal Tribune Online, 15.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24559 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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