2/2 Viele Menschen mit Behinderung wollen wählen
Die BMAS-Studie zeigt auch: Die betroffenen Menschen wollen wählen. Viele der Befragten hätten "unaufgefordert ihr Interesse an einer Wahlteilnahme" geäußert, berichten die Experten. Leonhard sagt: "Heute gibt es viele Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen, sich zu informieren, etwa Nachrichtensendungen und Wahlprogramme in leichter Sprache. Das ermöglicht vielen von ihnen auch, eine Wahlentscheidung zu treffen."
Zudem ist das Wahlrecht ein formales Recht – und eben nicht an bestimmte Voraussetzungen gebunden, erläutert der Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) Dr. Valentin Aichele: "In Bezug auf das verfassungsrechtlich garantierte Wahlrecht verfolgt auch das Bundesverfassungsgericht einen streng formalen Ansatz." Für Menschen mit Behinderungen sei dieser jedoch noch nicht konsequent umgesetzt. "Verfassungsrechtliche Aspekte von überragendem Gewicht, die die Aufrechterhaltung behinderungsbezogener Differenzierung rechtfertigen könnten, sehen wir nicht." Dafür spreche auch, dass die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein die Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Betreuungen in allen Angelegenheiten im vergangenen Jahr aufgehoben haben.
Außerdem verlange auch die UN-Behindertenrechtskonvention eine Inklusion in das politische Gemeinwesen: "Wir werben deshalb dafür, dass Menschen mit Behinderungen – wie von der UN-Behindertenrechtskonvention vorgesehen – nicht benachteiligt werden und das gleiche Wahlrecht beziehungsweise die gleiche Möglichkeit, wählen zu gehen, haben wie Menschen ohne Behinderung", so Aichele. "Sie dürfen nicht von einer Bundestagswahl, dem wichtigsten politischen Vorgang, ausgeschlossen werden."
Ein "Wahl-TÜV" wäre diskriminierend
Tatsächlich hatten sich Union und SPD im Koalitionsvertrag bereits auf eine Reform des Wahlrechts geeinigt. Die Union wollte allerdings ein umfassendes Paket, das auch die Überhangmandate regelt – dazu konnten die Koalitionspartner aber keinen Konsens erzielen.
Noch ist auch nicht ganz klar, wie eine Neuregelung aussehen könnte. Die Autoren der BMAS-Studie sprechen sich dagegen aus, Menschen mit Behinderungen grundsätzlich zur Wahl zuzulassen. Da die Betroffenen nicht entscheidungsfähig seien, sei das Risiko der Manipulation hoch. Es sei auch nicht sinnvoll, eine eigenständige Prüfung der Wahlfähigkeit vorzunehmen. Eine solche Prüfung könnte leicht als "Wahl-TÜV" politisch desavouiert werden und würde von Betroffenen "aller Voraussicht nach auch als besonders diskriminierend empfunden".
Stattdessen könnte man dem Richter ein Ermessen darüber einräumen, ob er eine Mitteilung an die für die Führung des Wählerverzeichnisses zuständigen Behörden macht – so könnte der Richter seinem persönlichen Eindruck folgen und auf die Mitteilung verzichten, wenn er den Eindruck hat, dass der Betreute nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen werden sollte.
Das DIMR fordert dagegen, den Wahlrechtsausschluss für Menschen mit Behinderungen und psychisch kranke Straftäter ersatzlos zu streichen. "Gegebenenfalls müssen die Unterstützung und der Schutz des höchstpersönlichen Rechts gegenüber der Einflussnahme durch Dritte zusätzlich geregelt werden", so Aichele. Eine Prüfung der Wahlfähigkeit durch die Betreuungsgerichte lehnt er ab: "Die Kriterien für eine solche Prüfung hat noch niemand überzeugend dargelegt." Stattdessen sollten "alle Menschen mit Behinderungen das Wahlrecht haben wie andere erwachsene deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auch."
"Es dauert, bis sich das gesellschaftliche Bild von Menschen mit Behinderungen ändert", sagt Leonhard. 2021 könnte es soweit sein.
Annelie Kaufmann, Wahlrecht für Menschen mit Behinderung: . In: Legal Tribune Online, 15.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24559 (abgerufen am: 07.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag