Sollte das Bürgergeld wegen knapper Kassen nicht erhöht werden? Vorschläge, Haushaltsprobleme bei den Ärmsten abzuladen, haben Konjunktur. Doch sie verkennen das Gesetz und die Rechtsprechung des BVerfG. Eine Analyse von Thorsten Kingreen.
Als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Mitte November das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für verfassungswidrig erklärte, stand zunächst die Frage im politischen Raum, wie es denn nun mit der klimapolitischen Transformation weitergehen soll. Sozialpolitikern wurde aber schnell klar: Auch für uns wird es jetzt ernst. Fast 40 Prozent des Bundeshaushalts entfallen auf den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS); weitere Sozialleistungen wie etwa das Elterngeld und die neue Kindergrundsicherung gehören zum Haushalt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Dass die Beitragseinnahmen der fünf Sozialversicherungszweige mit knapp 600 Milliarden Euro die Einnahmen des Bundes übersteigen, ist weitgehend unbekannt; über sie entscheidet ja praktischerweise auch nicht der Haushaltsgesetzgeber.
So war es nur eine Frage der Zeit, bis die üblichen Verdächtigen auch einen Blick in die Töpfe der sozialstaatlichen Leistungssysteme werfen würden. Und zumindest parteitaktisch überrascht es wenig, dass das Bürgergeld, genauer gesagt seine zum 1.1.2024 anstehende Erhöhung von 502 auf 563 Euro für Alleinstehende, nun in den Mittelpunkt der Debatte gerückt ist. Insbesondere für die Opposition ist das praktisch, denn man kann sich mit dem Thema als Repräsentantin der "arbeitenden Bevölkerung" profilieren, die Migrationsdebatte ein wenig anheizen und nebenbei auch noch einen Keil in die ohnehin nur noch flackernde Ampel schlagen. Und das Publikum wird in dem Glauben gelassen, dass die Regelsätze für das Bürgergeld beliebig politisch gesetzt sind und damit flexibel an die gerade aktuelle Stimmungslage in den sozialen Medien angepasst werden können.
Komplizierte (juristische) Realität
Die (derzeit insgesamt nicht so populäre) Realität ist nun aber ein wenig komplizierter. Zur Rechtslage: Der Regelsatzbemessung liegt ein methodisch höchst anspruchsvolles statistisches Verfahren zugrunde, das im Wesentlichen im SGB XII (für nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige) geregelt ist, aber über den Verweis in § 20 Abs. 1a SGB II auch für das Bürgergeld gilt. Der monatliche Regelbedarf, der nach § 27a Abs. 1 und 2 SGB XII den notwendigen Lebensunterhalt insbesondere für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie und die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft abbildet (wozu erst seit 2021 auch die Kosten für den Mobilfunk gehören), orientiert sich nach § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII an Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, am Verbraucherverhalten und an den Lebenshaltungskosten.
Einkommen und Verbraucherverhalten werden nach § 1 Abs. 1 des Regelbedarfsermittlungsgesetzes (RBEG) auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2018 durchgeführt; zuständig ist das vom BMAS beauftragte Statistische Bundesamt. Als Referenzhaushalte werden – zur Vermeidung von Zirkelschlüssen ohne die Empfänger von SGB II- und SGB XII-Leistungen (§ 3 RBEG) – die unteren 15 Prozent der Einpersonenhaushalte und die unteren 20 Prozent der Familienhaushalte herangezogen; die Preisentwicklung bei Diamanten, Golfschlägern und Kreuzfahrten spielt also keine Rolle. Die §§ 5, 6 RBEG normieren die als regelbedarfsrelevant berücksichtigten Verbrauchsausgaben der Referenzhaushalte in Euro-Beträgen.
Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum
Auch die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen ist minutiös geregelt. Zunächst nimmt das wiederum vom BMAS beauftragte Statistische Bundesamt gemäß § 28a Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 und 2 SGB XII eine sog. Basisfortschreibung nach einem Mischindex vor, der die sich aus der Entwicklung der Preise aller regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen ergebende Veränderungsrate mit einem Anteil von 70 Prozent und die sich aus der Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter je beschäftigten Arbeitnehmer ergebende Veränderungsrate mit einem Anteil von 30 Prozent berücksichtigt. In einem zweiten Schritt wird dann durch eine "ergänzende Fortschreibung" (§ 28a Abs. 4 SGB XII) der aktuellen Preisentwicklung Rechnung getragen.
Das ist kompliziert und passt nicht in eine Schlagzeile oder einen Tweet. Aber es folgt der 2010 ergangenen Entscheidung des BVerfG zur Bemessung der Regelsätze im Grundsicherungsrecht. In dieser Entscheidung hat das Gericht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum abgeleitet. Aus diesem folge zwar grundsätzlich kein Recht auf einen bestimmten Regelsatz. Das Grundrecht verpflichte den Gesetzgeber aber, "alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen".
Die EVS bilde in statistisch zuverlässiger Weise das Verbrauchsverhalten der Bevölkerung ab, und auch die Auswahl der untersten, nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Einpersonenhaushalte sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, urteilte das BVerfG. Verfassungswidrig sei es aber, dass die Festsetzung der Regelsätze seinerzeit auf einer nicht tragfähigen Auswertung der EVS beruht habe. Bei einzelnen Ausgabepositionen seien prozentuale Abschläge für nicht regelleistungsrelevante Güter und Dienstleistungen (Pelze, Maßkleidung und Segelflugzeuge) vorgenommen worden, ohne dass festgestanden habe, ob die Vergleichsgruppe überhaupt solche Ausgaben getätigt habe.
Kaum verfassungsrechtlicher Spielraum
Bei anderen Ausgabepositionen seien Kürzungen vorgenommen worden, die zwar dem Grunde nach vertretbar, in der Höhe jedoch empirisch nicht belegt seien, z.B. eine Kürzung um 15 Prozent beim Strom. Der Bedarf von Kindern sei überhaupt nicht nachvollziehbar bemessen worden. Auch in späteren Entscheidungen hat das BVerfG bei den Methoden und Begründungen für die Bemessung des Existenzminimums sehr genau hingeschaut. Nicht haltbar war es beispielsweise, dass der Gesetzgeber bei alleinstehenden Asylsuchenden, die in Sammelunterkünften untergebracht sind, einen niedrigeren Regelbedarf vorsah, weil er ohne empirische Grundlage davon ausging, dass diese schon zusammen kochen und wirtschaften würden.
Die prozeduralen und materiellen Anforderungen an die Bemessung der Regelsätze sind also sehr hoch. Ein kurzfristig zu lösendes Haushaltsproblem oder parteitaktische Interessen sind bislang jedenfalls nicht als zulässige Parameter anerkannt worden. Vor diesem Hintergrund ist die Debatte über die Bürgergelderhöhung wenig zielführend.
Abgesehen davon, dass es ethisch fragwürdig ist, die Haushaltsprobleme nun ausgerechnet bei den Ärmsten abzuladen, ist hier der verfassungsrechtliche Spielraum am geringsten. Ganz abgesehen davon, dass beim Bürgergeld vergleichsweise wenig zu holen ist und dass eine Absenkung bis zum 1.1.2024 rein praktisch ohnehin nicht mehr funktionieren würde. Allenfalls könnte man die Entwicklung der (geringer als erwartet ausfallenden) Inflationsrate berücksichtigen. Dann müsste aber auch zeitnah nachsteuern, wenn diese wieder steigt. 2022, als das Bürgergeld für Alleinstehende nur um drei Euro erhöht und auch nicht mehr angepasst wurde, ist das unterblieben – obwohl die Inflation aufgrund des Kriegs in der Ukraine massiv anzog.
Generationenungerechte Klientelprojekte hinterfragen
Die anhaltende verfassungspolitische Kritik an der Schuldenbremse, die – obwohl im Grundgesetz normiert – wie eine kleinteilige Verwaltungsvorschrift formuliert ist, ist grundsätzlich nachvollziehbar. Allerdings sollte die Entscheidung des BVerfG vom November jetzt als Anregung begriffen werden, sozialpolitisch innezuhalten; diese Chance wird leider derzeit durch die Fixierung auf das Bürgergeld vertan.
Innehalten würde bedeuten, nicht einzelne Regelsätze, sondern die einseitig konsumtiv und zu wenig investiv orientierten sozialstaatlichen Strukturen in den Blick zu nehmen. Etwa 130 Milliarden Euro und damit fast jeder vierte Euro aus dem regulären Bundeshaushalt werden – auf verfassungsrechtlich versteckter Grundlage (Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG) – nur für die Rentenversicherung verausgabt, um deren Beitragssatz unter prokrastinierender Ausblendung der demografischen Unwuchten stabil zu halten und generationenungerechte Klientelprojekte wie die Rente mit 63 bzw. 65 zu finanzieren. Mit einer völligen Selbstverständlichkeit erhalten alle Eltern Kindergeld bzw. profitieren von den verteilungspolitisch fragwürdigen Kinderfreibeträgen, und es geht ein Aufschrei durchs Land, wenn die Einkommensgrenzen von 300.000 Euro für den Bezug des steuerfinanzierten Elterngelds allmählich abgesenkt werden sollen.
In einem solchen Klima der Wohlstandsubventionierung gilt es natürlich als gesetzt, dass auch vermögende Haushalte bei den Energiepreisen entlastet werden müssen und Professoren dringend steuerfreie Corona-Prämien benötigen. Aus Ludwig Erhards "Wohlstand für alle" ist ein "Sozialstaat für alle" geworden, der Zukunftsinvestitionen in Sondervermögen verdrängt hat.
Autor Prof. Dr. Kingreen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg.
Der Sozialstaat nach dem Schuldenbremse-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 07.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53364 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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