Der EuGH hat einen Fall aus Frankreich zum Abgasskandal entschieden. Das Urteil hat auch große Bedeutung für Deutschland: Hierzulande könnten Millionen Dieselfahrzeuge zurückgerufen werden, meint Felix W. Zimmermann.
Ein Hersteller darf keine Abschalteinrichtung einbauen, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, um ihre Zulassung zu erreichen. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag (Urt. v. 17.12.2020, Rechtssache C-693/18) auf ein Vorabentscheidungsersuchen aus Frankreich hin.
Die Entscheidung hat jedoch auch große Bedeutung für den Dieselskandal in Deutschland, denn die Luxemburger Richter entschieden zudem, dass der Einbau solcher Abschalteinrichtungen nicht damit gerechtfertigt werden kann, dass sie den Motor vor Verschleiß und Abnutzung schützten.
Thermofenster: Abgasreinigung fast permanent auf Sparflamme
"Der aktuelle Vorfall steht keineswegs symptomatisch für die deutsche Automobilindustrie und auch nicht für Volkswagen" - so jedenfalls die Formulierung in einer Sprachregelung der Bundesregierung aus 2015 zum Dieselskandal. Zwischen Autoherstellern und Behörden bestand damit Einigkeit: Dass Volkswagen in der Motorreihe EA 189 die Abgasreinigung durch illegale Software-Programmierung deaktivierte, sollte als einmaliges Ereignis verstanden werden.
Doch früh schon gab es daran Zweifel. Denn eine Untersuchungskommission stellte 2016 fest: Nicht nur Volkswagen schaltet im Realbetrieb auf der Straße, wo es für die Umwelt auf das Abgasverhalten ankommt, den Wagen auf schmutzig, sondern alle geprüften Hersteller verwenden Abschalteinrichtungen in Form der sogenannten Temperatur- bzw. Thermofenster. Dies bedeutet: Die Abgasreinigung der Dieselautos wird bei bestimmten Außentemperaturen stark reduziert oder sogar ganz abgeschaltet. Und zwar nicht nur bei extremen Bedingungen, sondern etwa schon bei Temperaturen von unter 15 Grad. In Deutschland liegt die Durchschnittstemperatur bei circa 10 Grad. Das heißt: Die Abgasreinigung bei Dieselautos funktioniert die meiste Zeit des Jahres nicht richtig, Grenzwerte für Stickoxid werden um ein Vielfaches überschritten, die Gesundheit der Bevölkerung geschädigt. Eine absurde Situation.
Doch die Autoindustrie argumentiert, es sei legal, die Abgasreinigung bei völlig üblichen Temperaturen auszuschalten. Die Hersteller berufen sich auf die Ausnahmevorschrift in Art. 5 Abs. 2 der EU-Verordnung 715/2007. Danach sind Abschalteinrichtungen ausnahmsweise zulässig, wenn sie notwendig sind, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten. Wenn die Abgasreinigung nicht gedrosselt werde, schädige dies den Motor, so die Argumentation der Hersteller.
Das Problem: Nach dieser Logik dürften die Autohersteller auf den Einbau teurer Hardware, die Dieselautos sauber machen, ohne zu Verrußungen des Motors zu führen, ganz verzichten. Sie dürften damit weiterhin sehenden Auges schlecht funktionierende und vor allem billige Abgassysteme einbauen, die abgeschaltet werden müssen, weil sonst das Auto irgendwann Schaden nimmt. Das zuständige Kraftfahrtbundesamt segnete diese Argumentation gleichwohl ab und erteilte jedenfalls nach einem Software-Update die Freigabebescheide für derartige temperaturabhängigen Abschalteinrichtungen.
Zusammengefasst heißt das: Viele Dieselfahrzeuge in Deutschland sind schmutzig unterwegs, weil keine teuren Abgasreinigungssysteme verbaut sind, sondern billige Bauteile, die den Großteil des Jahres auf Sparflamme laufen, damit das Auto nicht langfristig beschädigt wird – und das alles zulasten der Umwelt.
Abschalteinrichtungen unzulässig: Millionen Autos in illegalem Zustand
Die zuständige Generalanwältin des EuGH, Eleanor Sharpston, kam jedoch in ihren Schlussanträgen im April dieses Jahres zu dem Schluss, dass die Ausnahme vom Verbot der Abschalteinrichtung eng auszulegen sei. Die Einhaltung der Grenzwerte unter Normalbedingungen müsse die Regel sein. Nur wenn ein Motorschaden plötzlich und gewaltsam auftrete, sei eine Abschalteinrichtung zur Vorbeugung zulässig. Das Abgasreinigungssystem hingegen würde den Motor jedenfalls nicht plötzlich und gewaltsam zerstören - und dürfe entsprechend nicht einfach heruntergeregelt werden. Hintergrund des Vorabentscheidungsverfahrens ist ein Strafverfahren wegen VW-Dieselmanipulationen vor dem Tribunal de Grande Instance de Paris.
Der EuGH bestätigte mit dem Urteil vom Donnerstag nun die Ansicht der Generalanwältin. Eine Abschalteinrichtung sei nur zulässig, wenn sie vor plötzlichen unmittelbaren Motorschäden schützt, die zu einer konkreten Gefahr beim Fahren führt. Ansonsten würde das in der Verordnung aufgestellte Verbot von Abschalteinrichtungen seiner Substanz entleert und jeder praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn es möglich wäre, auf unzulässige Abschalteinrichtungen allein mit dem Ziel zurückzugreifen, den Motor vor Verschmutzung und Verschleiß zu bewahren, so die Luxemburger Richter.
Für die Automobilindustrie ist diese Entscheidung der "Supergau", meint etwa Automobilexperte Prof. Dr. Stephan Bratzel von der Fachhochschule der Wirtschaft. Millionen Fahrzeuge, die mit Thermofenstern ausgestattet worden sind, seien nicht in einem legalen Zustand und müssten nun zurückgerufen werden.
Deutsche Behörden werden einen Rückruf nicht freiwillig anordnen
Doch dass deutsche Behörden von sich aus einen solchen Rückruf anordnen, ist nicht zu erwarten. Das Bundesverkehrsministerium teilte am Donnerstag direkt nach der Urteilsverkündung in einer Stellungnahme ohne Begründung mit, die Entscheidung des EuGH bestätige, dass das Kraftfahrtbundesamt rechtmäßig gehandelt habe.
Offenbar will das Ministerium die Argumentation von Volkswagen übernehmen, wonach Thermofenster auch dafür gedacht seien, vor sofortigen und plötzlichen Motorschäden zu schützen. Hierzu verweist der Konzern auf ein Gutachten des industrienahen Prof. Dr. Thomas Koch vom Karlsruher Institut für Kolbenmaschinen, früher selbst Motorenentwickler bei Daimler. Seine Einschätzung ist allerdings mit dem Sachverständigengutachten, welches dem EuGH-Urteil zugrunde liegt, nicht in Einklang zu bringen. Dort heißt es nämlich explizit, dass das Abgasrückführungssystem den Motor nicht zerstöre.
Auch für Prof. Dr. Kai Borgeest, Leiter des Zentrums für Kfz-Elektronik und Verbrennungsmotoren an der Technischen Hochschule Aschaffenburg, ist klar, dass Thermofenster nach diesem Urteil des EuGH nicht zulässig sind. Denn Beschädigungen am Motor seien bei Problemen mit der Abgasrückführung ein schleichender Prozess, es käme gerade nicht zu einem plötzlichen unmittelbaren Ausfall des Motors. Damit sei auch das Abschalten der Abgasreinigung in diesen Fällen unzulässig.
Sollten die deutschen Behörden - wie zu erwarten - untätig bleiben, könnte ihnen wieder einmal die Deutsche Umwelthilfe (DUH) Beine machen. Sie fordert nach dem Urteil in einer Pressemitteilung vom Donnerstag: "Sollte sich Bundesverkehrsminister Scheuer weiter weigern, die betroffenen Fahrzeuge amtlich zurückzurufen und die Hersteller zu einem Austausch der funktionsuntüchtigen Abgaskatalysatoren zu verpflichten, wird dies die DUH in ihren laufenden Klage vor Gericht durchsetzen."
Verlier sind die Verbraucher, die einen Diesel kauften
Sofern der EuGH in einem für nächstes Jahr erwarteten Urteil zu dem Schluss kommt, dass die DUH in derartigen Fällen klagebefugt ist, könnte es sein, dass auf Klagen der DUH bald Gerichte das Kraftfahrtbundesamtes anweisen, Millionen Fahrzeuge von der Straße zurückzurufen - und zwar auch solche, die mit einem Software-Update angeblich wieder rechtskonform im Verkehr sind.
Und die Verbraucher? Der Wert von Diesel-Gebrauchtwagen dürfte schon aufgrund der EuGH-Entscheidung vom Donnerstag erheblich sinken. Schlimmer noch: Es droht mittelfristig die Stilllegung der Fahrzeuge, wenn eine Hardware-Nachrüstung, die die Dieselautos tatsächlich sauber macht, nicht möglich wäre.
Hinzu kommt: Die Frage des Schadensersatzes wegen des Einbaus illegaler Abschalteinrichtung wurde speziell für die Thermofenster noch nicht entschieden. Viele Gerichte lassen die Frage der Rechtmäßigkeit derzeit offen und meinen, dass in einer derartigen Abschalteinrichtung jedenfalls keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung liege. Vor diesem Hintergrund sind die Aufrufe von Anwälten, die Entscheidung vom Donnerstag würde zu einer erfolgreichen neuen Klagewelle führen, mit großer Skepsis zu begegnen.
Und so könnte am Ende der Dieselkunde der große Verlierer sein, wenn Fahrzeuge stillgelegt werden und hierfür kein Schadensersatz gezahlt werden muss.
EuGH-Urteil zu Abschalteinrichtungen: . In: Legal Tribune Online, 17.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43771 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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