2/2: Familie als Indikator für gewöhnlichen Aufenthalt
Die Dreimonatsfrist erweist sich allenfalls als eingeschränkt tauglich, um den gewöhnlichen vom vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden. Eine klare Abgrenzung bedarf einer Überprüfung der Bindungen und Bezugspunkte des Antragstellers zu seinem Aufenthalts- wie auch zu seinem Herkunftsstaat, um abschließend und rechtssicher über einen Wechsel der wohlfahrtsstaatlichen Verantwortung und damit der Zuständigkeit für die Existenzsicherung befinden zu können. Der gewöhnliche Aufenthalt ist durch eine zukunftsoffene Verlagerung des Lebensmittelpunkts gekennzeichnet, bei der eine Rückkehr ins Herkunftsland nicht absehbar ist.
Auch wirtschaftlich Inaktive können einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik begründen, etwa wenn sie mit ihren erwerbstätigen Familienangehörigen und den gemeinsamen schulpflichtigen Kindern zusammenleben wollen, so wie es in diesem Fall der Spanier Garcia-Nieto wollte. Es ist in solchen Sachverhalten die Familie, die eine "gewöhnliche Verbindung" zur Solidargemeinschaft des betreffenden Staates begründet. Die starre Frist und das Absehen von einer Einzelfallprüfung lassen die individuellen Umstände im Interesse der Verwaltungsvereinfachung zurücktreten.
Ausgespart hat der EuGH wiederum die Auseinandersetzung mit dem koordinierenden Sozialrecht. Dieses eröffnet Unionsbürgern einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung, sobald sie ihren Lebensmittelpunkt in einem Mitgliedstaat begründet haben, so Art. 2 Abs. 1, Art. 4 VO (EG) 883/2004, Art. 11 VO (EG) 987/2009. Wartefristen sind – wenn sie nicht auch für die eigenen Staatsangehörigen gelten – mit diesem Gebot nicht vereinbar.
Verwaltungsvereinfachung kollidiert mit Gerechtigkeitsinteresse
Der Verzicht auf die Einzelfallprüfung mag der Verwaltungsvereinfachung dienlich sein. Der Gerechtigkeit im Einzelfall dient sie aber nicht, denn es wird unterstellt, dass die ersten drei Monate eines Aufenthalts generell nicht mit der Begründung eines neuen Lebensmittelpunkts einhergehen. All jenen, die eine übermäßige Belastung des inländischen Sozialsystems befürchten, hilft die Wartefrist ohnehin nicht viel weiter. Das drängende Problem sind gerade nicht neu Einreisende, wie etwa der betroffene Herr Garcia-Nieto, sondern vielmehr Arbeitnehmer in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Für diese gilt die Wartefrist (und auch der im Fall Alimanovic bewertete Leistungsausschluss für Arbeitsuchende) gerade nicht. Denn selbst wenn die Einkünfte aus der Erwerbstätigkeit bei Weitem nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt zu decken, werden diesem Personenkreis dennoch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gewährt.
Der gesetzliche Mindestlohn mag das Problem ein wenig entschärft haben. Trotzdem erweist sich die Grundsicherung in vielen Fällen als Mittel zur Aufstockung von Löhnen aus geringfügigen Arbeitsverhältnissen, in denen Arbeitnehmer aus Mitgliedstaaten wie Rumänien und Bulgarien nahezu ausbeuterisch beschäftigt werden.
Letztendlich spart der Leistungsausschluss im SGB II dem Sozialstaat nicht wirklich viel Geld, hat das BSG doch erst im Dezember 2015 festgestellt, dass sich – wenn schon nicht aus dem Europarecht – zumindest aus dem Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz ein Anspruch auf Zugang zu den Leistungen der Sozialhilfe ergibt, wenn diese notwendig sind, um den Lebensbedarf zu sichern (Urt. v. 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R).
Die Autorin Prof. Dr. Constanze Janda ist Professorin für Sozialrecht, Europäisches Arbeitsrecht und Zivilrecht an der SRH Hochschule Heidelberg. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks Migrationsrecht und setzt sich seit vielen Jahren mit den Rechtsfragen der sozialen Absicherung von Migranten auseinander.
EuGH zu deutschen Sozialleistungen für EU-Bürger: . In: Legal Tribune Online, 25.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18591 (abgerufen am: 06.11.2024 )
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