Pflanzen, deren Erbgut mit neuartigen "Genscheren" verändert wurde, unterliegen dem strengen EU-Gentechnikrecht. Das dürfte ihren Einsatz erst einmal verhindern. Dabei ist das wenig zeitgemäße Urteil gar nicht das Problem, meint Felix Beck.
Das Erbgut von Lebewesen kann man zielgerichtet verändern. Eine Reihe neuer biotechnologischer Verfahren bezeichnet man als Genomeditierung. Dabei wird mit einer sog. "Genschere" (etwa CRISPR/Cas) die DNA an der gewünschten Stelle aufgeschnitten. Wenn zelleigene Mechanismen diesen Schnitt reparieren, werden an der Schnittstelle kleine Veränderungen ins Erbgut eingefügt, die Mutationen genannt werden. So ist es möglich, einzelne Gene gezielt zu aktivieren oder auszuschalten, etwa um Nutzpflanzen resistenter gegen bestimmte Herbizide oder Krankheitserreger zu machen.
Im Unterschied zur konventionellen Gentechnik arbeitet Genomeditierung nicht nur präziser, sondern kann auch angewendet werden, ohne fremde DNA in den Organismus einzufügen. Zudem können die so erzeugten Veränderungen - zumindest theoretisch - auch durch herkömmliche Züchtungsmethoden oder natürliche Prozesse entstehen. So ist mitunter nicht nachweisbar, ob Erbgut sich durch Genomeditierung oder auf natürliche Weise verändert hat.
Wissenschaftler bezeichnen dieses Verfahren auch als "ortsspezifische Mutagenese". Sie beziehen sich dabei auf die konventionellen Mutagenese-Verfahren. Diese lösen Veränderungen im Erbgut aus, indem sie ein Organismus ionisierender Strahlung oder bestimmten Chemikalien aussetzen. Dabei entstehen zufällige Veränderungen des Erbguts, sodass in der Regel aus einer Vielzahl behandelter Pflanzen jene ausgesucht werden müssen, welche die gewünschten Mutationen tragen. Diese Verfahren werden bereits seit den 1930-er Jahren in der Pflanzenzüchtung eingesetzt; mit ihnen gezüchtete Pflanzen sind weit verbreitet und gelten allgemein als sicher.
EuGH: Genomeditierung erzeugt GVO
Eine französische Bauerngewerkschaft und mehrere Umweltverbände wollten dafür sorgen, dass die neuen Verfahren unter das strenge europäische Gentechnikrecht fallen. Sie argumentierten, die Ungefährlichkeit der Verfahren sei noch nicht bewiesen, weshalb das Vorsorgeprinzip gebiete, die so veränderten Pflanzen als "genetisch veränderte Organismen" (GVO) einzuordnen. Dem wurde entgegengehalten, dass ortsspezifische Mutagenese wesentlich sicherer sei als konventionelle Verfahren der Gentechnik, da sie insbesondere ohne das Einfügen artfremder DNA auskomme.
Der EuGH hat aber am Mittwoch entschieden, dass Organismen, die mithilfe von Methoden der Genomeditierung erzeugt wurden, als GVO von der EU-Freisetzungsrichtlinie (2001/18/EG) erfasst sind (EuGH, Urt. v. 25.08.2018, Az. C-528/16 - Confédération paysanne u.a.). Nach Ansicht der Luxemburger Richter gibt es rechtlich keinen Unterschied zwischen konventioneller und ortsspezifischer Mutagenese: Durch beide Verfahren werde eine Veränderung am genetischen Material eines Organismus vorgenommen, die "auf natürliche Weise nicht möglich" sei und damit von der GVO-Definition in Artikel 2 Abs. 2 der Freisetzungsrichtlinie erfasst werde.
Zu diesem Ergebnis kommt der EuGH nicht nur mit äußerst knapper Begründung. Er übergeht auch einen zentralen Streitpunkt in der juristischen Debatte: Nach einer verbreiteten Ansicht soll es nicht auf das Verfahren ankommen, mit dem die Veränderung erzielt wurde, sondern darauf, ob die erzielte Veränderung auch auf natürlichem Weg hätte entstehen können.
So würden auch Züchtungsmethoden, bei denen fremde DNA zwischenzeitlich in den Organismus eingefügt, später aber wieder ausgekreuzt wird, nicht reguliert. Der EuGH nimmt zu diesem Ansatz gar nicht Stellung; die Entscheidungsgründe deuten jedoch darauf hin, dass nach Ansicht der Luxemburger Richter jedes Züchtungsverfahren, das nicht auf natürlich aufgetretenen Erbgutveränderungen beruht, zu GVO im Sinne des Gentechnikrechts führen soll.
Keine Ausnahme für neue Mutagenese-Verfahren
Einen Unterschied zwischen konventionellen und neuen Mutageneseverfahren sieht der EuGH dagegen bei der Ausnahmeregelung für Mutagenese. Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Anhang I B Ziff. 1 der Freisetzungsrichtlinie schließt Organismen, die mit "Mutagenese" erzeugt wurden, vom Anwendungsbereich der Richtlinie aus. Den Begriff der Mutagenese definiert die jedoch nicht näher.
Nach Meinung der EuGH-Richter gilt die Ausnahmeregelung nur für solche Verfahren, die schon vor dem Erlass der Richtlinie im Jahr 2001 bekannt waren. Auf neue, auf Genomeditierung basierende Mutageneseverfahren bleibt das EU-Gentechnikrecht also anwendbar.
Zur Begründung stellt der Gerichtshof vor allem auf den 7. Erwägungsgrund der Freisetzungsrichtlinie ab. Danach soll die Richtlinie Verfahren nicht erfassen, "die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandt wurden und seit langem als sicher gelten".
Nach Auffassung des EuGH trifft das aber auf die neuen Mutageneseverfahren nicht zu; vielmehr halten die Richter deren Risiken für vergleichbar mit jenen der konventionellen Gentechnik. Zudem könne man mit den neuen Praktiken viel schneller und viel mehr genetisch veränderte Sorten erzeugen als bei der Anwendung herkömmlicher Methoden. Eine andere Auslegung würde, so die Richter in Luxemburg, daher den mit der Richtlinie verfolgten Zweck beeinträchtigen, die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu schützen. Zudem liefe sie dem umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip zuwider.
Dynamische Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe?
Mit dieser Begründung stellt sich der EuGH diametral gegen die Schlussanträge des Generalanwalts Bobek, der für eine dynamische Auslegung des Mutagenesebegriffs plädiert hatte. Nach seiner Auffassung ist eine Interpretation allein im Lichte der tatsächlichen oder sozialen Gegebenheiten, die beim Erlass der Richtlinie im Jahr 2001 vorherrschten, ein "extrem originalistischer Ansatz zur Rechtsauslegung, der auf dieser Seite des Atlantiks nicht häufig anzutreffen" sei.
Dieser Streit um die Auslegung des Mutagenesebegriffs ist ein Paradebeispiel für die Schwierigkeiten, die mit dem Bedeutungswandel unbestimmter Rechtsbegriffe verbunden sind. Zweifellos hatte der Unionsgesetzgeber einen bestimmten Methodenkanon vor Augen, als er die Ausnahme für "Mutagenese" beschloss – nämlich die Zufallsmutagenese mit chemischen Stoffen oder ionisierender Strahlung.
Wie aber soll die Rechtsprechung reagieren, wenn in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne gänzlich neue Verfahren entwickelt werden, die terminologisch in die Nähe der althergebrachten Verfahren gerückt werden? Von einem kontinuierlichen Bedeutungswandel, der eine dynamische Auslegung rechtfertigen könnte, kann man hier kaum ausgehen.
Vielmehr versucht die Wissenschaft, indem sie eine bestimmte Nomenklatur – hier "Mutagenese" - verwendet, gewissermaßen selbst über die (Nicht-)Regulierung neuer Technologien zu entscheiden. So suggeriert sie durch die Verwendung des Mutagenese-Begriffs eine Ähnlichkeit zwischen neuen und alten Verfahren, die tatsächlich aber gar nicht besteht. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des EuGH nachvollziehbar.
Der Gesetzgeber ist gefragt
Selten zuvor war im EU-Umweltrecht eine Frage derart umstritten wie jene, ob die Freisetzungsrichtlinie – und mit ihr ein komplexes und langwieriges Zulassungsverfahren – Anwendung auf genomeditierte Pflanzen findet. Die Entscheidung des EuGH dürfte den Einsatz dieser Pflanzen auf absehbare Zeit verhindern.
Es überrascht nicht, dass die Entscheidung des EuGH nun ebenso kontrovers diskutiert wird wie die Debatte zuvor geführt wurde: Gentechnik-Kritiker fühlen sich durch den Verweis des EuGH auf die vermeintlichen Risiken bestätigt; sie glauben die gesellschaftliche Mehrheit hinter sich, die in Europa traditionell gentechnik-skeptisch eingestellt ist. Pflanzenforscher fühlen sich dagegen missverstanden und sehen sich ihres modernen Handwerkszeugs beraubt, mit dem sie drängende Probleme in Landwirtschaft und Umweltschutz angehen wollen.
Das eigentliche Problem liegt gleichwohl nicht der Entscheidung des Gerichtshofs, sondern in der jahrelangen Untätigkeit des Unionsgesetzgebers. Chancen und Risiken neuer Technologien abzuwägen und diese bei Bedarf einer sachgerechten Regulierung zu unterwerfen, ist ureigene Aufgabe der Politik, nicht der Rechtsprechung. Gerade in der Regulierung biotechnologischer Verfahren und Erzeugnisse hat die EU über lange Zeit einen hohen Harmonisierungsgrad forciert. Damit hat sie auch ein besonderes Maß an politischer Verantwortung übernommen. Der darf sich die europäische Politik nun nicht länger entziehen.
Der Autor Felix Beck promoviert an der Universität Freiburg zum internationalen Haftungsrecht für Gentechnik-Schäden. Er ist Stipendiat der Deutschen Bundesstiftung Umwelt.
Das EuGH-Urteil zu Genscheren in der Pflanzenzüchtung: . In: Legal Tribune Online, 26.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29991 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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