Der KZ-Aufseher Demjanjuk verstarb noch vor einem rechtskräftigen Urteil. Seine Verteidigerkosten sollte nicht der Staat tragen, fand das LG München. Darin liegt kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, so der EGMR.
Deutschland hat beim Prozess gegen den ehemaligen Aufseher eines NS-Vernichtungslager John Demjanjuk nicht gegen die Unschuldsvermutung verstoßen. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Donnerstag (Beschwerdenummer 24247/15). Die Kammer mit sieben Richtern kam einstimmig zum Ergebnis, dass die Entscheidung des Landgerichts (LG) München II, Demjanjuks notwendige Auslagen nicht zu erstatten, keine Verletzung der Verfahrensgarantien des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellt.
Im Mai 2011 hatte das LG München II Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen im ukrainischen Vernichtungslager Sobibor zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Er soll bei der systematischen Ermordung der Menschen geholfen haben, die zwischen März und September 1943 in das Lager deportiert wurden. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch Demjanjuk legten Revision gegen die Entscheidung ein.
Das Verfahren gegen ihn lief also weiter, er war damit noch nicht rechtskräftig verurteilt. Und deshalb galt für ihn auch weiterhin der Grundsatz der Unschuldsvermutung, wie ihn Art. 6 Abs. 2 EMRK formuliert: "Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig." Im März 2012 starb Demjanjuk im Alter von 91 Jahren – und zwar im juristischen Sinne "unschuldig". Ein rechtskräftiges Urteil gegen ihn wird es nie geben.
Wer trägt Kosten nach Tod des Angeklagten?
Und so blieb die Frage, wer die Kosten und Auslagen für das Verfahren tragen muss, das am LG München II insgesamt 91 Prozesstage umfasste. Nach Paragraph 467 der Strafprozessordnung (StPO) fallen die Auslagen des Angeschuldigten, also insbesondere die Kosten für den Verteidiger, der deutschen Staatskasse zur Last – aber nur, wenn das Verfahren förmlich durch einen Gerichtsbeschluss eingestellt wird. Passiert das nicht, bleiben die Erben auf den Kosten sitzen, obwohl der Verstorbene nie rechtskräftig verurteilt wurde.
Um diese Schwebesituation aufzulösen, hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Jahr 1999 entschieden, dass im Todesfall ein anhängiges Verfahren durch Beschluss einzustellen ist. Und so kam es dann auch im Fall von Demjanjuk. Im April 2012 stellte das LG München II das Verfahren gegen ihn ein, allerdings entschied es ausdrücklich, dass die notwendigen Auslagen des Angeklagten nicht vom Staat übernommen werden.
Die Beschwerde gegen die Entscheidung der Hinterbliebenen, der Witwe und dem Sohn Demjanjuks, verwarf das Oberlandesgericht (OLG) München im Oktober 2012. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des OLG wurde 2014 nicht zur Entscheidung in Karlsruhe angenommen. Damit war der nationale Rechtsweg für die Hinterbliebenen ausgeschöpft. Witwe und Sohn Demjanjuks rügten vor dem EGMR, dass die LG-Entscheidung, die Kosten nicht staatlich zu übernehmen, das Prinzip der Unschuldsvermutung verletze.
EGMR: "Unglückliche Formulierung" aber keine Vorverurteilung
Zunächst stellte der EGMR in seiner Entscheidung fest, dass mit der durch das OLG verworfenen Beschwerde nicht das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden sei.
Sodann beschäftigt sich die Kammer mit den Fragen rund um die Unschuldsvermutung: Die Richter betonten, dass eine Verletzung dieser regelmäßig dann vorliege, wenn einer Gerichtsentscheidung die Auffassung zu entnehmen sei, dass der Angeklagte schuldig ist, obwohl er noch gar schuldig gesprochen wurde. Das gelte insbesondere für die Entscheidung zur Kostentragung. Zu unterscheiden sei jede Vorverurteilung streng von einem "state of suspicion", also einem Verdacht. Dabei komme es entscheidend auch auf die gewählten Formulierungen an. Das führte den EGMR zu einem genauen Blick auf die Begründung der Entscheidung des LG zu den Auslagen.
Mit Blick auf die Anstrengungen des LG München II zeigte sich der EGMR allerdings zufrieden. Für das erstinstanzliche Urteil hatte das Landgericht II in München 91 Prozesstage bewältigt und ein Urteil mit seinen rechtlichen und tatsächlichen Bewertungen von 220 Seiten angelegt. Es durfte darin zum Schluss kommen, dass gegen den Angeklagten ein "signifikanter Verdacht" bestand. Mit der Entscheidung zur Einstellung und zur Kostentragung wollte das Gericht laut Auffassung des EGMR gerade noch keine abschließende Aussage zur Schuld des Angeklagten treffen. Die Entscheidung habe sich allein auf einen "Verdacht" gestützt.
Als unerheblich befand der EGMR auch einige "unglückliche" Formulierungen in der Einstellungsentscheidung. So habe das LG ausgeführt, dass es noch zu Lebzeiten zu einer rechtskräftigen Entscheidung gegen Demjanjuk hätte kommen können, wenn die Verteidigung ihre Prozessrechte "zielgerichtet, strukturiert" ausgeführt hätte. Diese Formulierung könnte so verstanden werden, dass die Verteidigung verantwortlich sei für das Ausbleiben einer rechtskräftigen, finalen Entscheidung, so die EGMR-Richter.
Strafrechtler: Kein Räsonieren über Schuld nach dem Tod
Professor Dr. Martin Heger, Lehrstuhlinhaber für Strafrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, sieht die EGMR-Entscheidung skeptisch. "Die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK verbietet es grundsätzlich, die Kosten auf die Seite der Hinterbliebenen abzuwälzen, zumindest dann, wenn die Entscheidung nur an einen Verdacht und nicht an eine Schuld des Angeklagten anknüpfen kann." Ein Gericht dürfe nicht nach dem Tod des Angeklagten weiter über seine Schuld räsonieren.
Anders läge es, wenn zum Todeszeitpunkt etwa nur noch formale, technische Fragen der Revision offen wären. Konkret etwa, wenn der Beschluss schon formuliert gewesen wäre, es aber nicht mehr zur Verkündung und Übersendung am nächsten Tag komme, weil der Angeklagte in der Nacht verstirbt.
Aus Hegers Sicht könne das Problem auch nicht durch eine Art Prognose, die nach dem Todesfall die Erfolgsaussichten der Revision abschätzt, gelöst werden: "Sobald die Schuldfrage berührt ist, geht das nicht", meint Heger. Eine Prognose über den Ausgang der Revision hätte in dem konkreten Fall von Demjanjuk kaum Ansatzpunkte gehabt, die Akten hatten den BGH noch nicht erreicht, als er verstarb.
Das Urteil kann noch innerhalb von drei Monaten angefochten werden.
EGMR zu Prozess gegen KZ-Wächter Demjanjuk: . In: Legal Tribune Online, 24.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33447 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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