Revision im KZ-Prozess vor dem BGH: Das Sekre­ta­riat zur Vor­hölle

von Roman Fiedler

01.08.2024

Kann die Schreibtischtätigkeit einer Sekretärin in einem Konzentrationslager Beihilfe zum tausendfachen Mord sein? Am 20. August entscheidet darüber der 5. Strafsenat des BGH. Roman Fiedler war bei der Verhandlung in Leipzig dabei.

Beihilfe zum heimtückischen und grausamen Mord in 10.505 Fällen sowie zum versuchten Mord in weiteren fünf Fällen: Hierfür wurde Irmgard F. im Dezember 2022 vom Landgericht (LG) Itzehohe zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung verurteilt. Die mittlerweile 99-Jährige arbeitete ab 1943 als Zivilangestellte in der Kommandantur des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig. Dort war sie die erste Stenotypistin des Kommandanten – also so etwas wie die Chefsekretärin des Lagers.  

Der Generalbundesanwalt (GBA) hatte beantragt, über die eingelegte Revision der Angeklagten in einer Hauptverhandlung zu entscheiden, da grundsätzliche Fragen zur Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord in Konzentrationslagern aufgeworfen seien. Nach Ansicht des Verteidigers Rechtsanwalt Wolf Molkentin jedenfalls lasse sich der Fall nicht "bruchlos in die jüngere Rechtsprechung zu NS-Beihilfetaten einordnen". 

Im Prozess gegen John Demjanjuk im Jahr 2011 wurde zum ersten Mal die Frage der Strafbarkeit eines Wachmanns in einem Lager wegen Beihilfe zum Mord bejaht, ohne dass der Beweis eines konkreten Tatbeitrags erbracht werden konnte. Der Angeklagte wurde in seiner Funktion als Wachmann schlicht als "Teil der Mordmaschinerie" gesehen. Diese neue Linie führte der Bundesgerichtshof (BGH) 2016 im Urteil gegen Oskar Gröning – den "Buchhalter von Auschwitz" – fort. Gröning hatte nach der Selektion eintreffender Juden das ihnen entwendete Geld und Gepäck verwaltet. 

Anders als in diesen beiden Fällen verrichtete Irmgard F. ihren Dienst in einem Konzentrationslager, das anders als Auschwitz oder Sobibor kein "reines" Vernichtungslager war. Auch übte sie als Zivilangestellte lediglich Schreibtischtätigkeiten aus.

Letzter KZ-Prozess vor einem deutschen Gericht?

Aus Platzgründen tagte der 5. Strafsenat des BGH am Mittwoch im Großen Sitzungssaal des Reichsgerichtsgebäudes, in dem heute das Bundesverwaltungsgericht untergebracht ist. Der Gerichtssaal war einst Schauplatz für historische Verhandlungen wie den Reichstagsbrandprozess im Jahre 1933. Auch Adolf Hitler schwor hier als Zeuge seinen berühmten Legalitätseid.   

Die Wahl des Raumes scheint angemessen angesichts der Schwere dessen, was an diesem Tag verhandelt werden soll. Es ist der vielleicht letzte KZ-Prozess vor einem deutschen Gericht. Der holzgetäfelte und goldgeschmückte Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt an diesem heißen Julitag. Die Stimmung ist ernst. Angesichts der historischen Bedeutung wird die Verhandlung für das Bundesarchiv aufgezeichnet. 

Die Angeklagte selbst war nicht anwesend. Stattdessen fanden sich neben dem Gericht, den beiden Verteidigern aus Kiel und einem Vertreter des Generalbundesanwalts vor allem zahlreiche Nebenklagevertreter in Leipzig ein – zwölf an der Zahl. 

Der Schrecken der Konzentrationslager

Zunächst fasste der Berichterstatter des Senats Jan Gericke das Urteil der Vorinstanz zusammen. F. war als einzige Stenotypistin des Lagerkommandeurs des KZ-Stutthof vor allem mit der Bearbeitung des anfallenden Schriftverkehrs betraut gewesen – hierzu gehörten etwa auch Bestellungen von Zyklon B. So gut wie alle Korrespondenz sei durch ihre Hände gegangen. 

Diese "für die Ermöglichung der Tatausführung wesentliche Tätigkeit" habe dazu geführt, dass F. genaue Kenntnis über die Verhältnisse im Lager hatte. Auch konnte sie von ihrem Büro aus wesentliche Teile des Lagers, wie den Appellplatz, überblicken und habe den immer präsenten Geruch von verbrannten Leichen zweifellos wahrnehmen müssen.

Gericke beschrieb das Leiden der Gefangenen durch Hunger, Durst, Kälte, Krankheit, Erschöpfung und später Vernichtung. Die Angeklagte habe all dies in "gefühlloser Gesinnung" hingenommen und ihren Dienst getan. 

"Neutrale Handlungen" einer Sekretärin?

Verteidiger Wolf Molkentin – der schnell und mit eher leiser Stimme spricht – kritisierte, die Beweislage sei "dürftig". Das LG habe keine konkreten Handlungen seiner Mandantin benennen können, die in direktem Zusammenhang mit den Mordaktionen standen. Vielmehr handele es sich um "neutrale" und berufstypische Handlungen einer Sekretärin.

Er bezweifelte außerdem, dass der hinreichende Beweis erbracht sei, F. habe weitreichende Kenntnisse über den Zweck des Lagers gehabt. Es habe ferner nicht nachgewiesen werden können, welche Schriftstücke seine Mandantin im Einzelnen verfasst habe. Nach Molkentin tauge der Prozess kaum zu einer letzten Aufarbeitung des NS-Unrechts, sondern sei schlicht "übriggeblieben". 

Bundesanwalt Udo Weiß wiederrum betonte die "möglicherweise letzte Gelegenheit", in einem Prozess Fragen der Beihilfe zum Mord in Konzentrationslagern zu klären. Bisher seien vor allem Fälle von Wachleuten, Aufsehern oder Ärzten entschieden worden.

Hilfeleisten durch Dienstbereitschaft

Der Vertreter des GBA, dass die Angeklagte die einzige Sekretärin des Lagers gewesen sei und dem Kommandanten "allzeit treu zu Diensten" gestanden habe. Durch diese stete Dienstbereitschaft habe sie dem Kommandanten als Haupttäter psychische Beihilfe geleistet. F. habe eine "einzigartige Stellung" in der Schaltstelle des Lagers eingenommen, ihre Tätigkeit sei von hohem Stellenwert für die Aufrechterhaltung des Betriebs gewesen.

Auch seien die erhöhten Anforderungen für die Strafbarkeit bei berufstypischem Verhalten hier erfüllt, da F. angesichts der Umstände im Lager vom Tötungswillen des Kommandanten gewusst haben soll.

Der "geschichtswissenschaftlichen Unterscheidung" von Vernichtungs- und Konzentrationslagern komme im Strafrecht keine Bedeutung zu, so der Bundesanwalt. Das LG habe rechtsfehlerfrei entschieden: Die Einordnung des Betriebs der Vernichtungslager als einheitliches Mordgeschehen sei auf das KZ Stutthof übertragbar.

Auch Nebenklage-Vertreter Christoph Rückel relativierte die Unterscheidung der Lagertypen als "akademische Jurisprudenz". Die Schreibtätigkeit von F. sei wesentlich für die Umsetzung der Pläne der Haupttäter gewesen. Sie sei "keine Mitarbeiterin in der Suppenküche" gewesen.

Listen für den Abtransport nach Auschwitz erstellt

Da zu den bearbeiteten Schriftstücken auch Listen für den Abtransport von Insassen nach Auschwitz gehört haben sollen, habe die Angeklagte kaum glauben können "in einem Ferienlager tätig gewesen zu sein". F. sei eine Vertrauensperson für den Lagerkommandanten gewesen und habe "an der Spitze der Befehlskette" eine unterstützende Tätigkeit ausgeübt.  

Während andere Nebenklagevertreter sich mit dem Hinweis, es sei "schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem", im Wesentlichen darauf beschränkten, ihren Vorrednerinnen zuzustimmen, legte Rechtsanwalt Onur Özata gegen Ende des Verhandlungstages noch einmal den Finger in die Wunde. Angesichts einer sechs Jahrzehnte verschleppten Aufarbeitung von NS-Verbrechen durch die deutsche Justiz sei der Prozess gegen Irmgard F. die letzte historische Chance, das Unrecht zu adressieren.

Von 100.000 NS-Tätern, so Özata, seien nicht einmal 200 wegen der Morde an Millionen von Juden und anderen Opfern des Nationalsozialismus verurteilt worden. Diese Bagatellisierung, sei "deutsche Staatsraison" gewesen. 

Wie der BGH die Handlungen von Irmgard F. strafrechtlich bewerten wird, ist offen. Die für den 20. August, 10 Uhr, angekündigte Urteilsverkündung wird mit Spannung erwartet.  

Roman Fiedler ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Europäisches Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Leipzig und promoviert im Bereich der Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Zitiervorschlag

Revision im KZ-Prozess vor dem BGH: . In: Legal Tribune Online, 01.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55126 (abgerufen am: 17.08.2024 )

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