Zwei Olympioniken durften wegen rassistischer Äußerungen via Twitter nicht teilnehmen, die deutsche Ruderin Drygalla reiste ab, nachdem ihr Kontakte in die rechtsextreme Szene nachgesagt wurden. Christoph Vedder erklärt im LTO-Interview, wie Sportler sich bei der Olympiade verhalten müssen, wann der Entzug ihrer Medaillen droht und wer im Zweifel das letzte Wort hat.
LTO: Die Olympische Charta, was ist das überhaupt und wie verbindlich ist sie?
Vedder: Die Olympische Charta ist die Satzung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), eines Vereins nach Schweizer Recht. Die faktische Verbindlichkeit der Charta resultiert daraus, dass sie von den Gastgeberstädten bzw. -ländern bei der Vergabe der Spiele schriftlich in einem Vertrag mit dem IOC akzeptiert werden muss.
Auch die Sportler, Trainer und Journalisten müssen die Charta vertraglich anerkennen. Bei Sportlern läuft das so, dass das jeweilige Nationale Olympische Komitee seine Sportler dem IOC meldet. Auf dem Meldeformular muss der Sportler unterschreiben, dass er sich den Regelungen der Charta und des World Anti-Doping Code (WADA), der die Charta in Dopingsachen ergänzt, unterwirft. Das heißt, die Sportler verpflichten sich zwar vertraglich, und damit ja eigentlich freiwillig, die Regeln einzuhalten. Letztlich haben sie aber keine Wahl. Sie müssen das Regelwerk akzeptieren, andernfalls dürfen sie nicht mitmachen.
LTO: Gibt es neben der Charta weitere Vorschriften?
Vedder: Ursprünglich wurde alles in der Charta selbst geregelt. Jetzt gibt es etwa einen Media Guide, spezielle Regelungen für Werbung, die zig Seiten lang sind. Bis ins kleinste Detail wird dort vorgeschrieben, wer wo welche Werbung tragen darf. Bis auf den Quadratzentimeter! Das hätte die Charta völlig gesprengt. Diese Nebenregelungen haben aber die gleiche rechtliche Bedeutung wie die Charta. Sie sind nicht etwa zweitrangig. Wenn man von den "Olympic Rules" spricht, dann ist immer das Gesamtpaket gemeint. In seiner Wirkung und Verbindlichkeit ein weltweit einzigartiges Regelwerk.
"Gerichtliche Kontrolle trägt sehr zur Akzeptanz der Olympischen Charta bei"
LTO: Kommt es wie bei Gesetzen zu Streitigkeiten über die richtige Auslegung der Charta? Wer entscheidet dann?
Vedder: Ja. Im Vorfeld von London gab es eine Reihe von Fällen, in denen es um die Auslegung der Charta ging. Umstritten war etwa die Frage, ob ein Sportler, der wegen Dopings ausgeschlossen war, auch an den darauffolgenden Spielen nicht teilnehmen darf, die so genannte Osaka-Regel. Es war dann die Aufgabe des Sportschiedsgerichtshofs in Lausanne (Court of Arbitration for Sport (CAS)), dem sich auch das IOC unterworfen hat, zu überprüfen, ob diese Regel der Charta und dem WADA Code entspricht. Im Ergebnis hat er das verneint. So durften etwa die Leichtathletik-Olympiasieger LaShawn Merritt und Justin Gatlin nach London fahren und auch Claudia Pechstein darf auf eine Teilnahme an den Olympischen Winterspielen in Sotschi hoffen.
Seit 1996 in Atlanta gibt es außerdem so genannte Ad-hoc-Kammern des CAS, die während der Spiele vor Ort anwesend sind und bei Bedarf spätestens innerhalb von 24 Stunden entscheiden. Ein Sportler, der sich ungerecht behandelt fühlt, kann die Kammer anrufen. Das ist eine große und wichtige Errungenschaft unter rechtsstaatlichen Aspekten. Es ist wichtig, dass die Sportler ihre Rechte verfolgen können und nicht schutzlos Entscheidungen des IOC ausgesetzt sind. Dieses Verfahren funktioniert auch in der Realität sehr gut.
LTO: Entsprechen die Verfahren vor dem Sportschiedsgerichtshof einem Verfahren vor nationalen Gerichten?
Vedder: Verfahren wie die vor dem CAS könnte auch ein staatliches Gericht nicht besser oder rechtsstaatlicher durchführen. Diese gerichtliche Kontrolle trägt sehr zur Akzeptanz der Olympischen Charta und auch des Monopols und der Macht des IOC – die man ja durchaus kritisieren kann – bei. Das Gericht ist auch nicht IOC-hörig. Die Rechtsprechung des CAS steht außerdem unter der Kontrolle des Schweizer Bundesgerichts. Dieses kann die Entscheidungen des Sportgerichts aufheben.
"Wer gegen den Kodex verstößt, wird ausgeschlossen – ohne Medaillen"
LTO: Welche Sanktionsmöglichkeiten sieht die Charta vor?
Vedder: Den Ausschluss. Das gilt primär bei Doping, aber auch in anderen Fällen wie zum Beispiel den Beleidigungen über Twitter, die gegen den Verhaltenskodex verstoßen. Dem Sportler wird die Akkreditierung entzogen, er muss die Heimreise antreten, und eventuell schon gewonnene Medaillen können ihm theoretisch aberkannt werden. Ob es verhältnismäßig wäre, Medaillen bei einer bloßen Beleidigung abzuerkennen, ist allerdings fraglich.
LTO: Die Charta legt einen Verhaltenskodex fest. Seit wann gibt es diesen?
Vedder: Der Verhaltenskodex ist eine Reaktion auf die Bestechungsaffäre um die Vergabe der Olympischen Winterspiele 2002 nach Salt Lake City. Das IOC hat sich damals Rat von unabhängigen Fachleuten geholt. Das Ergebnis ist der Verhaltenskodex und insbesondere die Einrichtung einer Ethikkommission, in der neben Mitgliedern des IOC mehrheitlich unabhängige Persönlichkeiten von außen sitzen. Die Kommission ist während der Spiele ständig präsent, so auch derzeit in London. Die Kommission untersucht Verstöße gegen den Verhaltenskodex. Sie entscheidet dann nicht selber, sondern macht dem Executive Board des IOC einen Vorschlag. Gegen dessen Entscheidung des Komitees kann der Sportler wiederum vor den Sportschiedsgerichtshof ziehen.
Twitter-Beleidigungen, NPD-Verbindungen und die Olympische Charta: . In: Legal Tribune Online, 03.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6767 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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