Das OLG Karlsruhe hat eine Fortdauer der Untersuchungshaft des Wettermoderators Jörg Kachelmann abgelehnt. Was aber sind die Maßstäbe für die Beantwortung der zentralen Frage nach der Glaubhaftigkeit der Angaben jener Opferzeugin, die Sabine W. genannt wird? Prof. Dr. Matthias Jahn zeigt, dass die Juristen hier viel von der Aussagepsychologie gelernt haben.
Während der zuständige 3. Strafsenat des Karlsruher Oberlandesgerichts (OLG) darüber befand, ob gegen Jörg Kachelmann ein dringender Tatverdacht vorliegt, werden sich die drei Richter vielleicht an ihre juristische Ausbildung zurückerinnert haben.
Franz von Liszt, einer der berühmtesten deutschen Kriminalwissenschaftler, inszenierte im Jahr 1901 ein legendäres Hörsaalexperiment, das auch heute noch in Vorlesungen zum Strafprozessrecht nachgespielt wird. Nach einem fingierten Revolverattentat zwischen zwei hitzköpfigen Diskussionsteilnehmern wurden die Studenten und Rechtsreferendare zu dem Vorfall als Zeugen befragt. Das Ergebnis war vernichtend, die Erinnerung in einzelnen Punkten bei jedem zweiten der Anwesenden grob falsch.
Das Ergebnis: Die fehlerlose Erinnerung des Zeugen ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. "Redlich, aber falsch", diese unter Juristen bekannte Losung kündet von der Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises – in dem Münchener Strafverfahren um den Tod von Dominik Brunner an der S-Bahn Station Solln gibt es dazu derzeit reiches Anschauungsmaterial. Für den Beschuldigten verschärft sich die Lage nochmals, wenn in der Situation „Aussage gegen Aussage“ nicht nur die Redlichkeit, sondern sogar der Realitätsgehalt der Belastungsmomente zum Thema wird.
Leichen im Keller und verlassene Ex-Freundinnen – Glaubwürdigkeit ist nur ein Indiz
Der Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen müssen aber bei ansonsten schwieriger Beweislage gerade in streitigen Fällen wie in der Sache Kachelmann nachvollziehbare Kriterien zugrundeliegen. Dabei ist zunächst begrifflich zu unterscheiden zwischen der Glaubwürdigkeit einer Person, also einem Persönlichkeitsmerkmal, und der Glaubhaftigkeit einer Aussage als solcher.
Ist prozessentscheidend, ob die Aussage eines Zeugen glaubhaft ist, kann sich das Gericht spätestens in der Hauptverhandlung eines Sachverständigen bedienen. Gegenstand von dessen aussagepsychologischer Begutachtung ist aber nicht die Frage nach der allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer Eigenschaft der Person. Es geht vielmehr nur um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben tatsächlichem Erleben entsprechen.
Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist demnach nur ein Indiz für die Glaubhaftigkeit seiner Aussage. Ans Licht gezerrte Episoden aus dem Lebensumfeld von Opferzeugen sind daher für die juristische Beurteilung zunächst einmal ebenso irrelevant wie laienpsychologische Ferndiagnosen über die durchschnittliche Belastungstendenz der Angaben verlassener Freundinnen.
Juristen und Psychowissenschaften
Was zählt, sind vielmehr methodische Mindeststandards, die der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Grundsatzurteil bereits vor mehr als einem Jahrzehnt festgelegt hat. Damals ging es um ein Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (BGHSt 45, 164).
Geboten ist die Hinzuziehung eines psychologischen oder psychiatrischen Sachverständigen demnach jedenfalls im Hauptverfahren – im Fall Kachelmann also wohl ab September vor dem Landgericht Mannheim – dann, wenn der Sachverhalt Zweifel am Ausreichen der Sachkunde des Gerichts weckt.
Psychologen werden daher insbesondere dann herangezogen, wenn die Glaubhaftigkeit der Aussage des einzigen Belastungszeugen zu beurteilen ist, ohne dass weitere Sachbeweise existieren, die Frage von Freispruch oder Verurteilung also allein auf dieser Aussage beantwortet werden muss. Ebenso kann ein Sachverständiger zu beauftragen sein, wenn Aussagemotive wie Rache nicht von vornherein ausgeschlossen werden können und auch dann, wenn bei Sexualstraftaten der entgegenstehende Wille der Geschädigten in Frage gestellt wird.
Selten genug, aber im Fall der Zeugin Sabine W. dürften wohl alle drei Motive nicht sofort von der Hand zu weisen sein. Das erklärt die bislang über die Medien unter reger Beteiligung der Verteidigung von Jörg Kachelmann geführte Gutachterschlacht, die in der Hauptverhandlung ihre Fortsetzung finden dürfte.
Die Nullhypothese, Realitätskriterien und Lügensignale
Das Grundprinzip des Psychogutachtens besteht darin, die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu verneinen, bis das Ergebnis mit den Fakten des Falles nicht mehr vereinbar ist.
Der Sachverständige nimmt daher zu Beginn der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr. Der BGH bezeichnet dies als die Nullhypothese. Um in diesem Verfahren die Qualität von Angaben überprüfen zu können, haben sich in der Aussagepsychologie zwei Hauptkriterien etabliert. Kriterien für den Realitätsgehalt einer Zeugenaussage sind zum Beispiel die Konkretheit und Anschaulichkeit der Schilderungen, ihr Detailreichtum, die Schilderung unerwarteter Komplikationen, das Fehlen von Klischees und Stereotypen sowie für den Fall, dass mehrere Aussagen vorliegen, Übereinstimmungen, Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen.
Eine bewusst lügende Person konstruiert ihre Aussage hingegen aus gespeichertem Allgemeinwissen. Da dies eine schwierige Aufgabe ist, gibt es auch dafür Indizien. Klassische Lügensignale sind etwa Verlegenheit und Zurückhaltung des Aussagenden bis hin zu Verweigerungs- oder Fluchttendenzen (übrigens auch in der Körpersprache). Auch das so genannte Vorwegverteidigungs- ("Wenn Sie mir vorwerfen würden, dass ich ...") und das Entrüstungssymptom ("Eine Unverschämtheit, mir zu unterstellen, dass ich ...") sprechen dafür, dass eine Person bewusst die Unwahrheit sagt. Schließlich können auch die Kargheit, die Abstraktheit und die Detailarmut einer Darstellung ein Indiz für eine Lüge sein.
Genügt ein Gutachten den methodischen Standards des BGH, kann es das Tatgericht seiner Beweiswürdigung zugrundelegen, wenn es ihm inhaltlich folgen möchte. Bei sich widersprechenden Stellungnahmen der Sachverständigen kann aber auch die Einholung eines klärenden "Obergutachtens" erforderlich werden – der Einzelfall entscheidet.
Keine voreiligen Schlüsse!
Allerdings ist bei allen Schlussfolgerungen Vorsicht geboten: Sowohl bei Realitätskriterien als auch bei Lügensignalen handelt es sich nur um Indikatoren mit für sich genommen nur wenig über dem Zufallsniveau liegender Bedeutung.
Deshalb ist es auch wenig erhellend, wenn sich in den Medien aus den im Fall Kachelmann vorgelegten Gutachten aus dem Zusammenhang gerissene Zitate und Faktenschnipsel finden.
Nicht ein einzelnes Kriterium ist am Ende entscheidend für Freispruch oder Verurteilung von Jörg Kachelmann. Das Gericht muss und wird vielmehr eine Gesamtwürdigung vornehmen, die sich auf alle Informationen aus den Gutachten, die Meinungen der Sachverständigen und nicht zuletzt seine eigenen Eindrücke vom Realitätsgehalt der Aussage der Belastungszeugin stützen wird. Es ist, trotz allen sachverständigen Streits, am Ende immer noch der Richter, der die Verantwortung für das Urteil trägt.
Der Autor Prof. Dr. Matthias Jahn ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht und Leiter der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS) der Universität Erlangen. Er ist selbst im Nebenamt Richter am Oberlandesgericht Nürnberg .
Matthias Jahn, Der Fall Kachelmann: . In: Legal Tribune Online, 29.07.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1087 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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