Für die Stichwahlen in Bayern will die Staatsregierung für alle Wähler Briefwahl anordnen, hat dafür aber keine Rechtsgrundlage, meinen Andreas Gietl und Fabian Michl. Dabei sei es ein leichtes, auch in der Krise rechtsstaatlich zu handeln.
Am 15. März 2020 fanden die Kommunalwahlen in Bayern statt, noch ohne, dass besondere rechtliche Vorkehrungen zur Vermeidung der Ansteckung mit SARS-CoV-2 getroffen worden wären. Am Sonntag nächster Woche, dem 29. März 2020, steht in zahlreichen bayerischen Kommunen mit der Stichwahl der Bürgermeister und Landräte die zweite Runde an.
Die Bayerische Staatsregierung hat nun angekündigt, auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) anzuordnen, dass die Stichwahlen ausschließlich als Briefwahlen durchzuführen sowie Wahlscheine und Briefwahlunterlagen allen Wahlberechtigten auch ohne Antrag zuzusenden seien. Die Stimmabgabe in Wahllokalen werde nicht möglich sein, ließ das Bayerischen Innenministerium die Kommunen in einem Rundschreiben wissen. So schneidig und krisen-adäquat diese Maßnahme auf den ersten Blick daherkommt, so zweifelhaft ist doch ihre Rechtmäßigkeit.
Kommunalwahlen als Präsenzwahlen
Die Kommunalwahlen in Bayern sind – wie die meisten Wahlen in Deutschland – im Grundsatz Präsenzwahlen, d. h. die Wählenden geben ihre Stimme in einem Wahllokal ab, das für ihren Stimmbezirk eingerichtet wird. Die Präsenzwahl trägt vor allem den verfassungsrechtlichen Prinzipien der geheimen und öffentlichen Wahl Rechnung. Im bayerischen Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz (GLKrWG) wird die Stimmabgabe des Wählers im Wahllokal zwar nicht explizit vorgeschrieben, wohl aber in den Vorschriften über die Stimmbezirke, die Dauer der Abstimmung, die Öffentlichkeit der Wahl und das Wahlgeheimnis vorausgesetzt.
Die Briefwahl wird – als latente Beeinträchtigung des Wahlgeheimnisses und der Öffentlichkeit der Wahl – verfassungsrechtlich nur akzeptiert, weil sie das Prinzip der allgemeinen Wahl befördert, indem sie die postalische Stimmabgabe ermöglicht. Die Briefwahl ist also die Ausnahme von der Regel. Das Wahlgesetz setzt dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis um, indem es die Erteilung des für die Briefwahl erforderlichen Wahlscheins von einem Antrag des Wahlberechtigten abhängig macht und somit dem Wähler die Entscheidung zwischen Präsenz- und Briefwahl überlässt.
Die angekündigte Allgemeinverfügung iSd Art. 35 S. 2 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG)setzt das Antragserfordernis zur Ausstellung von Wahlscheinen außer Kraft und verbietet den Gemeinden, Stimmbezirke zur Abstimmung in Wahllokalen zu bilden. Damit ist eine Präsenzwahl nicht mehr möglich. Die Vorschriften über Stimmbezirke (Art. 11 Abs. 2 und 3 GLKrWG) und das Antragserfordernis für den Wahlschein (Art. 13 Abs. 1 GLKrWG) werden für die Stichwahl am 29. März 2020 nicht gelten, kündigt das Innenministerium an.
Infektionsschutz vor Wahlrecht?
Das Ministerium begründet seine Vorgaben damit, dass die infektionsschutzrechtliche Allgemeinverfügung nach § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG dem Wahlgesetz vorgehe. Das ist freilich eine bloße Behauptung, die schon normenhierarchisch wenig plausibel erscheint: Ein Verwaltungsakt, und ein solcher ist die Allgemeinverfügung, kann kein Gesetz derogieren. Auch nicht in Zeiten von Corona. Der Stufenbau der Rechtsordnung ist selbst gegenüber einem neuartigen Virus immun.
Denkbar ist nur, dass das (Bundes-)Infektionsschutzgesetz die Vorschriften des Landeswahlrechts verdrängte, so dass ein infektionsschutzrechtlicher Verwaltungsakt nicht an das Wahlgesetz gebunden wäre. Immerhin ermächtigt § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG, auf den sich das bayerische Gesundheitsministerium stützen will, die zuständigen Behörden dazu, Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen zu beschränken oder zu verbieten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.
IfSG ändert nichts am Kommunalwahlrecht
Mit viel "gutem" interpretatorischen Willen ist auch die Stichwahl eine solche "Veranstaltung". Aber ist das IfSG wirklich auf Wahlen zugeschnitten? Kann der Bundesgesetzgeber überhaupt Regelungen erlassen, die die Verwaltung dazu ermächtigten, das Kommunalwahlrecht der Länder zu suspendieren?
Zweifel sind angebracht: Der Bundesgesetzgeber mag zwar nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Grundgesetz (GG) die Gesetzgebungskompetenz für Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren haben. Der Bundesgesetzgeber kann in diesem Kompetenzbereich auch die Landesbehörden zu weiterem Handeln ermächtigen, das dann innerhalb des Kompetenzbereichs des Bundes auch Landesgesetzen vorgehen kann.
Doch die Kommunalwahlen wird man auch während einer Pandemie schwerlich diesem Kompetenzbereich zuordnen können. Sie stellen die demokratische Legitimation der Kommunalorgane her. Das Kommunalwahlrecht setzt mit der Organisation dieser Wahlen zwar (auch) die Vorgaben zur kommunalen Selbstverwaltung des Art. 28 GG um, ist aber, da es sich auf den demokratischen Staatsaufbau der Länder bezieht, eine ureigene Materie der Landesgesetzgebung. Der Bund bleibt hier – sieht man von seiner Gewährleistungspflicht nach Art. 28 Abs. 3 GG einmal ab – außen vor.
Auch ungeachtet der Kompetenzfrage ist die Anordnung, dass Wahlscheine ohne Antrag des Wählers zu erteilen sind, nicht von § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG gedeckt. Eine solche Rechtsfolge sieht das IfSG nicht vor: Das Ministerium will nämlich keine Veranstaltung beschränken oder untersagen, sondern den Kommunen eine konkrete wahlrechtliche Handlungspflicht auferlegen.
Die Norm bietet also keine Rechtsgrundlage für die Abkehr von der Präsenzwahl. Das Kommunalwahlrecht der Länder kann auf dieser Grundlage nicht eingeschränkt werde – auch nicht bei einer Pandemie, (offengelassen von Josef Franz Lindner auf dem Verfassungsblog*.
Wahlrechtsfragen sind Gesetzgebungsfragen
Auch der "Umweg" einer ministeriellen Weisung an die Kommunen, die Stichwahlen als reine Briefwahlen durchzuführen, käme man zu keinem anderen Ergebnis. Es ist schon zweifelhaft, ob die Staatsregierung den Kommunen für die Durchführung der Wahlen überhaupt Vorgaben machen kann, die über die Festlegung des Wahltermins (Art. 9 Abs. 2 GLKrWG) und die in der Wahlordnung geregelten Modalitäten hinausgehen. Immerhin billigt Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Bayerischen Verfassung den Gemeinden das Recht zu, ihre eigenen Angelegenheiten zu verwalten, "insbesonders ihre Bürgermeister und Vertretungskörper zu wählen." Selbst wenn damit Weisungen in Wahlrechtsfragen vereinbar wären, könnte die Staatsregierung die Kommunen damit nicht von den gesetzlichen Vorgaben befreien.
Im Übrigen steht dem Eingriff der Exekutive in die Durchführung der Wahl der Vorbehalt des Gesetzes entgegen, der die wesentlichen Entscheidungen des Gemeinwesens - dazu gehören zweifellos auch die grundsätzlichen Fragen der Wahlen – dem Gesetzgeber zuweist. Der Vorbehalt des Gesetzes hat Verfassungsrang (Art. 20 Abs. 3 GG) und ginge daher selbst dann dem IfSG vor, wenn es einschlägig wäre. Er findet seinen Niederschlag auch in der Bayerischen Verfassung, nach der die Regelung der Wahlrechtsgrundsätze dem Landtag vorbehalten ist (Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 14 Abs. 5 Bay. Verf.). Die Abwägung zwischen den von der Briefwahl berührten Grundsätzen der geheimen und öffentlichen Wahl und einer möglichen breiten Teilnahme an der Wahl steht daher nur dem Gesetzgeber zu.
Gesetzestreue oder Ansteckungsrisiko?
Die Stichwahlen in Zeiten von Corona stellen Staatsregierung und Kommunen in Bayern also vor ein Dilemma: Entweder man hält sich an die gesetzlichen Vorgaben, ermöglicht eine Präsenzwahl und erhöht dadurch das Infektionsrisiko. Oder man vermindert die Ansteckungsgefahr durch die Anordnung der ausschließlichen Briefwahl, verstößt dabei aber gegen das Wahlgesetz und riskiert damit möglicherweise sogar die Ungültigkeit der erzwungenen Briefwahlstimmen. Die Folge wäre, dass die Stichwahlen wiederholt werden müssten (Art. 46 Abs. 4 GLKrWG). Da auch der Wahltermin für die Stichwahlen gesetzlich vorgegeben ist (Art. 45 Abs. 1 Satz 2 GLKrWG), kommt eine Verschiebung ebenso wenig in Frage.
Doch das Dilemma ist nur ein scheinbares. Denn der Bayerische Landtag kann die Vorgaben des Wahlgesetzes ändern. Angesichts der besonderen Situation der Pandemie dürfte auch eine Änderung des Wahlgesetzes zwischen Erst- und Stichwahlen, ja sogar nur für die konkreten Stichwahlen am 29. März 2020 verfassungsrechtlich zulässig sein. Immerhin hat der Gesetzgeber bei der Ausübung seiner Kompetenz zur Wahlgesetzgebung einen weiten Gestaltungsspielraum, der auch krisenadäquate Reaktionen erlaubt.
Eine solche Wahlrechtsänderung kann auch kurzfristig im Landtag beschlossen werden. Zur Verringerung des Ansteckungsrisikos wird er während der Pandemie zwar nur mit einem Fünftel der Abgeordneten tagen, ist aber voll handlungsfähig. Auf der Tagesordnung der Plenarsitzung am 19. März fanden sich unter anderem einen Nachtragshaushalt und der Entwurf eines Bayerischen Infektionsschutzgesetzes. Warum die Staatsregierung die Gelegenheit nicht genutzt hat, eine der Pandemie angemessene Änderung des Kommunalwahlgesetzes zu initiieren, erschließt sich den Verfassern nicht.
Krise als Bewährungsprobe
Die Verlässlichkeit des verfassungsrechtlichen Gewaltenarrangements beweist sich in einer Krisensituation wie der gegenwärtigen. Im demokratischen Rechtsstaat gibt es keine übergesetzlichen Notstandsbefugnisse der Exekutive, keinen Ausnahmezustand, der die Verwaltung von den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben suspendieren würde: Weder im Wahlrecht noch andernorts. Die Krise ist in der gewaltenteiligen, rechtsstaatlich verfassten Demokratie nicht die "Stunde der Verwaltung", sondern verlangt nach einem koordinierten Zusammenwirken aller staatlichen Gewalten, wie die anstehenden Stichwahlen in Bayern zeigen.
Die von der Bayerischen Staatsregierung avisierte Zwangs-Briefwahl auf infektionsschutzrechtlicher Grundlage gefährdet die demokratische Legitimation der in der Stichwahl bestimmten Bürgermeister und Landräte. Gerade in der Pandemie, deren Ende derzeit nicht absehbar ist, ist eine makellose Legitimation aber nötiger denn je, zumal die Gemeinden und Landkreise bzw. Landratsämter als Sicherheits- und Infektionsschutzbehörden derzeit Rechtseingriffe ungekannten Ausmaßes verantworten.
Auch wenn die Mehrheit der Wähler im Angesicht des Infektionsrisikos derzeit wohl auch exekutive Alleingänge mittragen würden, sollte die legitimierende Kraft der Wahl gegenüber der skeptischen Minderheit sichergestellt werden. Das Wahlrecht ist der falsche Ort für Krisen-Experimente. Denn Wahlrechtsfragen sind Machtfragen und es besteht stets die Gefahr, dass ein in der Krise gesetzter Präzedenzfall darüber hinaus Schule macht und unter ungünstigeren politischen Bedingungen illegitime Einflussnahmen der Regierung auf die Wahlen rechtfertigt. Denn schließlich ist es stets zunächst die Exekutive, die entscheidet ob eine “Krise” vorliegt oder nicht.
Der Autor Dr. Andreas Gietl ist Lehrbeauftragter an der Universität Regensburg. Der Autor Dr. Fabian Michl ist Akademischer Rat a. Z. an der Universität Münster.
*Anm. d. Red.: Sachliche Änderung am Tag der Veröffentlichung, 16:15 Uhr: Hier stand zunächst, im Verfassungblog sei diese Aussage bereits getroffen worden. Tatsächlich hat Josef Franz Lindner das in seinem Beitrag dort offengelassen. (pl)
Coronakrise und die Stichwahlen in Bayern: . In: Legal Tribune Online, 20.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40983 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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