Ein noch nie nach Deutschland eingereister, visumspflichtiger Ausländer kann nicht ausgewiesen werden. Erforderlich sei ein Aufenthalt im Inland. Diese Frage hat das BVerwG erstmals höchstrichterlich entschieden, erläutert Markus Sade.
Der erste Senat des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) verhandelte am Donnerstag über die Möglichkeit der Ausweisung eines bisher noch nie eingereisten Ausländers. Die von Seiten des Gerichts vormals explizit offengelassene Frage beantwortete es nun erstmals: Die Ausweisung eines noch nie in das Bundesgebiet eingereisten Ausländers ist nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht möglich, so das BVerwG (Urt. v. 25.05.2023, Az. 1 C 6.22).
Die Ausweisung nach den §§ 53 ff. AufenthG knüpfe zwingend an einen Aufenthalt des Ausländers im Inland an. Insoweit wurde die erstinstanzliche Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) München wiederhergestellt.
Als eines der "schärfsten Schwerter des Ausländerrechts" beendet die Ausweisung die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts eines Ausländers. Sie ist eine Maßnahme mit ordnungsrechtlichem Charakter, die der Vorbeugung von Gefährdungen und Störungen erheblicher Interessen der Bundesrepublik dient. Zu diesen zählen unter anderem die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die freiheitlich demokratische Grundordnung.
FBI: Kläger soll im Irak terroristische Straftaten begangen haben
Der in der Türkei lebende Kläger mit irakischer Staatsangehörigkeit beantragte 2018 in der Deutschen Botschaft Ankara ein nationales Visum zum Zwecke der Familienzusammenführung zu seiner deutschen Ehefrau, welche er im Jahr zuvor in der Türkei geheiratet hat. Die Visumserteilung wurde abgelehnt.
Im Zuge der Identitätsprüfung im Visumsverfahren wurde ersichtlich, dass die vom Kläger abgegebenen Fingerabdrücke mit solchen übereinstimmen, die dem FBI 2015 im Rahmen eines internationalen Fahndungsersuchens (INTERPOL-"Blue Notice") vorlagen. Das FBI verdächtigt den Kläger, terroristische Straftaten im Irak begangen zu haben. Insbesondere soll er im Jahr 2006 bei der Herstellung einer Sprengfalle mitgewirkt haben.
Laut Generalkonsulat der Republik Irak in Frankfurt hat das irakische Innenministerium mitgeteilt, der Kläger sei Mitglied der Terrororganisation "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) gewesen und habe auch als Soldat fungiert. Der Kläger bestreitet sämtliche terroristischen Verbindungen.
Die beklagte Landeshauptstadt München wies den Kläger 2019 aus der Bundesrepublik aus und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf acht Jahre. Der Kläger ging in erster Instanz beim VG München mit Erfolg gegen den Ausweisungsbescheid vor. Dagegen legten die Beklagte und die Landesanwaltschaft Bayern als Interessensvertreter der Öffentlichkeit Berufung ein. Der Verwaltungsgerichtshof München gab der Berufung statt und änderte das Urteil des VG. Wegen rechtsgrundsätzlichen Fragen wurde letztlich die Revision zum BVerwG zugelassen.
Abwägung zwischen Ausreise- und Bleibeinteresse
Dabei ging es im Wesentlichen um die in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht eindeutig geklärte Frage, ob eine Ausweisung nach § 53 AufenthG auch gegenüber einem Ausländer verfügt werden kann, der sich im Ausland aufhält und sich auch noch nie im Bundesgebiet aufgehalten hat, sog. "einreiseverhindernde Ausweisung" oder "Auslandsausweisung". Daneben hat das BVerwG erstmals zum Merkmal des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ("Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat") höchstrichterlich Stellung bezogen.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung griff der Senat mit Blick auf die Auslandsausweisung auf den klassischen juristischen Auslegungskanon zurück. Der Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG spreche von der Abwägung des Ausreiseinteresses einerseits und dem Interesse am weiteren Verbleib des Ausländers andererseits. Dies deute auf die zwingende Erforderlichkeit eines Voraufenthalts hin. Auch unter systematischen Gesichtspunkten spreche unter anderem § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, welcher den Fristbeginn des Einreise- und Aufenthaltsverbots an die Ausreise anknüpft, für das Erfordernis eines Voraufenthalts.
Sofern ein "Fernhalteinteresse" bestehen sollte, so sei dieses nach Konzeption des AufenthG im Entscheidungsverfahren über die Visumserteilung mit Blick auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 4 AufenthG zu berücksichtigen. Offen gelassen wird jedoch, ob es einer gesetzlichen Möglichkeit bedarf, einen Ausländer auszuweisen oder ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Dies solle der Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten sein.
"Auslandsausweisung" ist entbehrlich
Ziel einer "Auslandsausweisung" ist primär, einen Ausländer vom Bundesgebiet fernzuhalten. Dafür sorgt das an die Ausweisung gekoppelte Einreise- und Aufenthaltsverbot. Weil also nur einer von zwei Hauptaspekten der Ausweisung Relevanz entfaltet, ist der Gedanke nach einem "isolierten Einreiseverbot" nicht fernliegend und durchaus nachvollziehbar, wenngleich nicht weiterführend: Ein Einreiseverbot kann nur erlassen werden, wenn der Ausländer ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).
Überlegungen dieser Art sind mit Blick auf das geltende Recht jedoch entbehrlich. Der Senat verweist in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit, den Visumsantrag nach § 5 Abs. 4 AufenthG abzulehnen. Danach setzt auch die Visumserteilung voraus, dass kein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 oder 4 AufenthG (Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung; Gewalt bei Verfolgung politischer oder religiöser Ziele) vorliegt.
Mit Blick auf den Normzweck des § 5 Abs. 4 AufenthG spricht vieles für dieses Verständnis: Schon bevor mögliche Täter das Bundesgebiet erreichen, soll eine wirksame Gefahrenabwehr gegen Terrorismus bestehen. Nach der Gesetzesbegründung zur Vorgängernorm § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthG a. F. (BT-Drs. 15/420, S. 70) werden nämlich auch Bestrebungen außerhalb des Bundesgebietes agierender Tätergruppen erfasst.
Klägervertreter: "Urteil erspart Ausländerbehörden überflüssige Arbeit"
Entgegen der Auffassung des VGH München ist dieses Verfahren auch gleich geeignet, um einen Ausländer fernzuhalten. Sollte dieser eine Einreise versuchen, so wird er nach § 15 Abs. 1 AufenthG an der Grenze zurückgewiesen werden. Ihm wird es im Regelfall ohnehin an einer Aufenthaltserlaubnis fehlen. Bis es dazu aber kommt, müsste der Ausländer, dessen Visumsantrag ohne Erfolg verblieben ist, ohne Aufenthaltstitel den Weg in Richtung Bundesrepublik beschreiten. Dies erscheint sehr unwahrscheinlich.
Der Rechtsanwalt des Klägers, Christoph Tometten, führte im Anschluss an die Urteilsverkündung aus: "Die Ausländerbehörden sollten sich über dieses Urteil freuen: es erspart ihnen viel überflüssige Arbeit. Die Aufklärung von Auslandssachverhalten ist bei den Ausländerbehörden denkbar schlecht aufgehoben. Für die Gefahrenabwehr gibt es andere Mittel, die geeigneter sind als eine Ausweisung auf Vorrat."
Damit wurde nun ein seit langer Zeit offenes Fragezeichen im Migrationsrecht beantwortet.
Markus Sade studiert Rechtswissenschaft an der Universität Leipzig, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Notariat Dr. Christian Gerlach sowie studentische Hilfskraft am Lehrstuhl Prof. Dr. Johannes Eichenhofer in Leipzig. Er setzt sich nebenher mit migrationsrechtlichen Fragen auseinander.
BVerwG zur Auslandsausweisung: . In: Legal Tribune Online, 25.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51860 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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