VG legt EuGH vor: Wann darf Deut­sch­land erneute Asy­l­an­träge pau­schal ablehnen?

von Tanja Podolski

26.06.2024

Erneute Asylanträge werden in Deutschland grundsätzlich als unzulässig abgelehnt. Das VG Minden hält das nun für unionsrechtswidrig und hat den EuGH angerufen.

Einige Schutzsuchende stellen nicht nur einen Antrag auf Asyl. Manche bewegen sich in ein anderes Land und werden erneut vorstellig, andere bleiben in Deutschland und stellen hier einen weiteren Asylantrag. Um die Verfahren in diesen Fällen zu verkürzen, können die Behörden diese abermaligen Anträge als unzulässig ablehnen – so war und ist weitestgehend die ständige Praxis in Deutschland.  

Nach Äußerungen der EU-Kommission glaubt das Verwaltungsgericht (VG) Minden nun aber, dass dieses Vorgehen unionsrechtswidrig sein könnte. Die EU-Kommission hat nämlich in einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH, Urt. v. 20.05.2021, Az. C-8/20) eine Stellungnahme abgegeben. Nach der darin geäußerten Position der Kommission wäre das pauschale Ablehnen von erneuten Anträgen als unzulässig durch deutsche Behörden nach Ansicht der VG-Richter:innen nicht mehr möglich ist.  

In dem Verfahren, in dem die EU-Kommission ihre Stellungnahme abgegeben hat, ging es darum, wie Deutschland mit Anträgen umgehen muss, die zuvor in Norwegen als Nicht-EU-Land entschieden wurden. Das sind nach deutschem Recht sogenannte Zweitanträge. Diese Anträge müssen nach dem EuGH-Urteil von den EU-Mitgliedstaaten erneut geprüft werden. Norwegen nehme zwar an Teilen des europäischen Asylsystems teil, könne aber einem Mitgliedsland der EU nicht gleichgestellt werden.  

Die Stellungnahme der Kommission in dem Verfahren geht nach Ansicht des VG Minden über das vom EuGH Entschiedene jedoch weit hinaus. Darin heißt es, dass nach Ansicht der Kommission auch Entscheidungen von anderen Mitgliedstaaten nicht ohne eigene Prüfung übernommen werden könnten. Aus Sicht des VG Minden dürften nach dieser Wertung der Kommission die Zweitanträge nicht mehr von deutschen Behörden pauschal als unzulässig abgelehnt werden – die aktuelle Praxis wäre unionsrechtswidrig. Das VG rief den EuGH an, damit dieser für Klarheit sorgt (EuGH, Az. C 123/23) und hat in seinem Vorabentscheidungsersuchen sehr ausführlich die Problematik dargelegt.  

Der Fall aus Minden, sichere Drittstaaten und Herkunftsländer

In dem Fall am VG Minden geht es um eine Mutter mit ihren beiden Kindern, staatenlose Palästinenser aus dem Gazastreifen. Die drei waren schon in Spanien und Belgien als Flüchtlinge registriert (Az. 1 K 1829/21.A). Spanien lehnte die Wiederaufnahme ab, Belgien teilte mit, dass der Asylantrag abgelehnt wurde. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte den Antrag dann als unzulässig ab, sah keine Abschiebungsverbote und drohte die Abschiebung in den Gazastreifen an.  

Das BAMF stützte diese Entscheidung auf § 71a Abs. 1 Asylgesetz (AsylG), die deutsche Regelung für die Zweitanträge. Danach muss kein erneutes Asylverfahren durchgeführt und der Antrag kann als unzulässig abgelehnt werden, wenn bereits ein sicherer Drittstatt erfolglos ein Verfahren durchgeführt und sich die Sach- und Rechtslage seitdem nicht geändert hat (kein Vorliegen von Wiederaufgreifengründen gem. § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz). Sichere Drittstaaten sind in § 26a AsylG legaldefiniert. Das sind die EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen und die Schweiz.  

Da es im Mindener Fall bereits – so sei es bei einer Entscheidung aus Belgien anzunehmen – eine genaue Prüfung des Asylantrags und danach eine rechtsstaatliche Entscheidung durch einen sicheren Drittstaats gebe, ging das BAMF davon aus, den Antrag als unzulässig ablehnen zu dürfen.

Nur am Rande sei erwähnt, dass der Begriff der sicheren Drittstaaten nicht identisch ist mit den sicheren Herkunftsstaaten nach § 29a AsylG – letzterer bezeichnet die Herkunftsländer der Schutzsuchenden. Wenn diese als sicher gelten, können die Asylanträge als offensichtlich unbegründet, nicht aber schon als unzulässig beschieden werden. Sichere Herkunftsstaaten sind ebenfalls die EU-Mitgliedstaaten und zudem die Westbalkanstaaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Serbien, sowie Ghana, Senegal, Georgien und Modau. Für diese Länder besteht die gesetzliche Vermutung, dass keine Gründe für Asyl bestehen, anderes muss der Schutzsuchende durch entsprechenden Vortrag glaubhaft machen.

Deutsche Gleichstellung von Folge- und Zweitanträgen

Doch durfte das BAMF im Minderer Fall tatsächlich so verfahren? Dafür braucht es den genaueren Blick auf die Regelungen zu Folge -und Zweitanträgen – die wiederum voneinander zu unterscheiden sind. Der Folgeantrag ist in § 71 Abs. 1 AsylG geregelt, der Zweitantrag in § 71a Abs. 1 AsylG. Der Unterschied besteht darin, dass bei einem Folgeantrag das erste Asylverfahren in Deutschland, bei einem Zweitantrag in einem sicheren Drittstaat durchgeführt wurde.  

Beide Anträge sind zweistufig zu prüfen: Zunächst, ob neue Sach- und Rechtsfragen für ein weiteres Asylverfahren vorliegen, ansonsten ist der Antrag als unzulässig abzulehnen. Die vom Antragsteller vorgebrachten Gründe, warum er in seinem Herkunftsstaat Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden befürchtet, sind dann nicht weiter zu prüfen. Zu klären bleibt nur noch das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach nationalem Recht, § 31 Abs. 3 AsylG. Das Antragverfahren ist in solchen Fällen damit – vorbehaltlich einer gerichtlichen Überprüfung – abgeschlossen.  

Liegt dagegen ein Grund für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vor, ist der Antrag zulässig und die zuständige Behörde hat auf der zweiten Stufe zu prüfen, ob dem Antragsteller internationaler Schutz zuzuerkennen ist.

Sinn und Zweck der Zweitantragregelung von § 71a AsylG ist also, dass der Zweitantrag dem Folgeantrag gleichgestellt wird – es soll unerheblich sein, welches Land über den Antrag entschieden hat. Der Antrag soll nach deutschem Recht in beiden Fällen grundsätzlich als unzulässig abgelehnt werden könnten.  

Das VG Minden hat jedoch "ernstliche Zweifel", ob § 71a AsylG mit Unionrecht vereinbar ist.

Bisherige Rechtsprechung des EuGH zum Zweit- und Folgeantrag

Denn nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH stehe nur fest, dass Asylanträge nicht als unzulässig abgelehnt werden dürfen – also § 71a Abs. 1 AsylG keine Anwendung findet –, wenn es sich bei dem Drittstaat nicht um einen EU-Mitgliedstaat handelt. So hatte es das luxemburgische Gericht in dem Fall aus Norwegen entschieden. In diesen Fällen und zudem, wenn die zunächst prüfenden Mitgliedstaaten nicht an die Qualifikationsrichtline (Richtlinie 2011/95/EU) gebunden sind (EuGH, Urt. v. 22.09.2022, Az. C-497/21), muss Deutschland selbst noch einmal den Asylantrag prüfen und kann ihn nicht grundsätzlich als unzulässig ablehnen.  

Diese Entscheidungen betreffen aber nur die Zweitanträge.  

Zudem gibt es eine Regelung in der Asylverfahrensrichtlinie (RiLi 2013/32/EU). Nach dem Wortlaut in Art. 33 Abs. 2d der Richtlinie dürfen Mitgliedsstaaten nur Folgeanträge als unzulässig ablehnen – nach dem Wortlaut also ihre selbst schon einmal entschiedenen. Bisher habe der EuGH die Frage, ob der Begriff "Folgeantrag" aus der Asylverfahrensrichtlinie dennoch mitgliedstaatsübergreifend angewendet werden kann und damit auch für Zweitanträge gilt, ausdrücklich offengelassen (EuGH, Urt. v. 20.05.2021, Az. C 8/20, u. Urt. v. 22.09.2022, Az. C-497/21), so das VG Minden. Doch nur, wenn der EuGH urteilt, dass Mitgliedstaaten die Entscheidungen aus anderen Ländern ihren eigenen zugrunde legen dürfen, wäre die deutsche Praxis unionsrechtskonform.

Die Frage nach der Bedeutung des Begriffs "Folgeantrag" stelle sich nach Darstellung des VG Minden in zwei unterschiedlichen Fallkonstellationen: Einerseits nach Prüfung und Ablehnung eines Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat, also so, wie es im aktuellen Mindener Fall die Sachlage ist. Zum zweiten bei einer Einstellung durch einen anderen Mitgliedstaat, weil der Antragsteller dieses Verfahren nicht weiter betrieben hat. Auch diese Fallkonstellation hat das VG Minden noch vorliegen und will es ebenfalls zur Vorabentscheidung vorlegen.

Kommission gegen mitgliedstaatsübergreifende Regelung

Die Kommission selbst habe in der Stellungnahme zum Norwegen-Fall explizit gesagt, dass Folgeanträge nicht wie Zweitanträge zu behandeln sind, so das VG Minden. Sie lege stattdessen dar, dass das Unionsrecht einer mitgliedstaatsübergreifenden Anwendung des Folgeantragskonzepts entgegensehe. Sonst würden Mitgliedstaaten einfach gegenseitig ihre negativen Asylentscheidungen bestätigen, was grundsätzlich nicht vorgesehen sei. Es spreche daher viel für die Annahme, dass diese gegenseitige Anerkennung negativer Asylentscheidungen vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich und in hinreichender Klarheit beschlossen werden müsste, so die Kommission. Die Folgen der Einstufung eines Antrags als Folgeantrag für Asylantragsteller sei nämlich beträchtlich.  

Für das VG steht die Bedeutung dieser Stellungnahme der EU-Kommission außer Zweifel. Die Kommission sei die "Hüterin der Verträge", der u.a. auch die Überwachung der Einhaltung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten obliegt. Die Argumentation sei zudem – unabhängig davon, ob man ihr in der Sache folgt – nicht offensichtlich zurückzuweisen.  

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Niedersachsen ist der Auffassung, dass ein Generalanwalt des EuGH bereits durch seine Ausführungen im Norwegen-Verfahren für Klarheit gesorgt habe (OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.12.2022, Az. 11 LA 280/21). Das sieht das VG aber nicht so und begründet seine Vorlage an den EuGH wie folgt: "Diese Argumentation verkennt die Stellung des Generalanwalts. Diesem obliegt als ‘Vordenker’ des Gerichtshofs die Vorlage von begründeten Schlussanträgen; die endgültige Entscheidung über die Auslegung des Unionsrechts obliegt allein dem Gerichtshof" – und der hatte die Frage ja gerade nicht beantwortet.

Wortlaut gegen Pragmatismus

Allerdings hat der EuGH kürzlich entschieden, wie mit Erkenntnissen von Mitgliedstaaten umzugehen ist, wenn ein Schutzstatus zuerkannt wurde: Dann steht es den nationalen Behörden frei, sich auf die Erkenntnisse der Mitgliedsstaaten zu beziehen oder eine eigene Prüfung vorzunehmen (Urt. v. 18.06.2024, Az. C-753/22). Trotz der Begrifflichkeit in der Asylverfahrensrichtlinie ist es also gut denkbar, dass sich die Länder auch bei einer Ablehnung grundsätzlich auf die Entscheidungen der Mitgliedstaaten beziehen können.

Am Donnerstag werden die Schlussanträge des Generalanwalts auf die erste Vorlage aus Minden veröffentlicht. Für das VG Minden bleibt noch bis zur Entscheidung durch den EuGH die Frage: Ist die Zweitantrag-Regelung des § 71a AsylG von der Asylverfahrensrichtlinie gedeckt? Dürfen sich die Behörden für die Bescheidung eines Antrags als unzulässig auf vorausgegangenen Entscheidungen der Mitgliedstaaten beziehen? Denn nach den Begrifflichkeiten in der Asylverfahrensrichtlinie dürften die Mitgliedstaaten ja nur die von ihnen selbst bereits beschiedenen Anträge als unzulässig ablehnen.  

Sollte der EuGH jedoch die Unionsrechtswidrigkeit der Regelung und damit die Unanwendbarkeit der Regelung des § 71a AsylG feststellen, müssten die deutschen Behörden den Asylantrag der Palästinenserin und die von vielen anderen künftig vollständig prüfen. Das letzte Wort dazu hat dann womöglich aber nicht der EuGH – sondern der EU-Gesetzgeber.

Zitiervorschlag

VG legt EuGH vor: . In: Legal Tribune Online, 26.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54864 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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