Behörden in Sachsen lassen Gerichtsbeschluss ins Leere laufen: Zustän­dig­keits­chaos führt zu Abschie­bung

von Tanja Podolski

23.07.2024

Das VG Chemnitz untersagte eine Abschiebung nach Marokko. Wegen Zuständigkeitschaos wurde die Entscheidung nicht weitergeleitet und der Mann ausgeflogen. Das Land räumt Fehler ein, die Stadt geht erfolgreich zum OVG.

Mehdi N. ist nach Marokko abgeschoben worden, obwohl es einen anderslautenden Gerichtsbeschluss gab: Das Verwaltungsgericht (VG) Chemnitz hatte die Stadt Chemnitz verpflichtet, die Abschiebung auszusetzen (Beschl. v. 11.07.2024, Az. 6 L 346/24). In Sachsen obliegen Abschiebungen aber der Landesdirektion, einer dem Innenministerium unterstellten Mittelbehörde. Da die Stadt also nicht zuständig war, der Beschluss sich aber an die Stadt richtete, übermittelte niemand ihn an die ausführende Bundespolizei. N. wurde ausgeflogen. Es folge ein weiterer Beschluss zu Rückholung samt darauf folgender Beschwerde. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) hat in dem Zuständigkeitschaos in Sachsen so weit es konnte aufgeräumt (Beschl. v. 22.07.2024, Az. 3 B 111/24, 3 B 112/24). Die Stadt Chemnitz muss ihn jedenfalls nicht zurückholen.

Der 34-Jährige ist marokkanischer Staatsbürger und seit September 2023 mit einer Deutschen verheiratet. Gemeinsame Kinder hat das Paar entgegen anders lautender Berichte nicht. Der Mann befand sich in einer Flüchtlingsunterkunft in Chemnitz, seine Frau lebt in Bochum. Anträge auf Umverteilung des Mannes in eine andere Unterkunft in NRW, auf einen Aufenthaltstitel und eine Beschäftigungserlaubnis hat die Ausländerbehörde in Chemnitz bislang nicht beschieden, den Antrag auf Asyl hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt. N. lebte nur mit einer Duldung in Deutschland. Rechtlich war er daher zwar vollziehbar ausreisepflichtig. Vollzogen werden darf diese aber nur, wenn keine Abschiebungshindernisse bestehen. Die liegen bei Familien mit Kindern dann vor, wenn eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung besteht, § 60a Abs. 2 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Bei Ehen ohne Kinder müssen die Eheleute in aller Regel ausreisen und aus dem Ausland heraus einen Visumsantrag stellen. 

Da der Mann mit einer Deutschen verheiratet ist und diverse Anträge noch anhängig waren, ging seine Anwältin, Inga Stremlau aus Bochum, jedenfalls davon aus, dass in diesem Fall keine Abschiebung bevorstehen würde. 

Niemand zuständig

Am Donnerstag, 11. Juli, wurde N. jedoch nach Frankfurt am Main verbracht und solle abgeschoben werden. Die Anwältin stellte beim VG Chemnitz einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), als Beschwerdegegnerin gab sie die Stadt Chemnitz an. 

Am selben Mittag erging der Beschluss: Das Gericht verpflichtete die Stadt, die Abschiebung auszusetzen und stellte diesen der Anwältin und dem Rechtsamt der Stadt zu. "Da die Stadt Chemnitz die Abschiebung aber nicht durchführte, übersandte sie den Beschluss im Interesse einer Klärung an die nicht im Beschluss aufgeführte Landesdirektion Sachsen", teilte die Stadt auf LTO-Anfrage mit. 

Am Nachmittag hatte die Bundespolizei jedoch noch immer keine Mitteilung über den Beschluss des Gerichts erhalten und müsse in der Situation mit der Abschiebung fortfahren. Anwältin Stremlau telefonierte mit dem Rechtsamt der Stadt – die Durchwahl hatte sie vom VG erhalten –, mit der Ausländerbehörde und mit einer Frau bei der Landesdirektion. Die Aussagen waren inhaltlich weitgehend identisch: Der Beschluss liege vor, man selbst sei aber nicht zuständig. Die Landesdirektion verwies an die Stadt als im Rubrum genannte Antragsgegnerin, die Stadt an die Landesdirektion als zuständige Behörde für Abschiebungen. 

Die Stadt Chemnitz teilte nun auch gegenüber LTO mit, dass sie für die Abschiebung nicht zuständig sei und damit eine Stornierung nicht habe erfolgen können. "Der Rechtsanwältin wurden aber alle Kontaktdaten einschließlich der zuständigen Bearbeiter nebst Telefonnummern der Landesdirektion Sachsen, Zentrale Ausländerbehörde vermittelt. Anders lautende Darstellungen stellen den Sachverhalt in Bezug auf die Beteiligung und Zuständigkeit der Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz objektiv falsch dar", so die Stadt auf LTO-Anfrage. 

Eine Weiterleitung des Beschlusses an die Bundespolizei erfolgte dann von keiner Stelle: weder vom Rechtsamt noch von der Ausländerbehörde noch von der Landesdirektion. N. wurde um 17.55 Uhr ausgeflogen. 

Verfahren liegt am OVG

Der Anwältin bliebt nur, einen weiteren Antrag bei demselben Gericht zu stellen, dieses Mal auf Rückholung. Auch diesen richtete sie gegen die Stadt. Das VG gab dem Antrag aus dem allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch statt (Beschl. v. 16.07.2024, Az. 6 L 353/24): Dem Marokkaner muss innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung die Wiedereinreise auf Staatskosten ermöglicht werden. Dazu verpflichtete das Gericht von sich aus beide: die Stadt Chemnitz und den Freistaat, vertreten durch die Landesdirektion. Die 6. Kammer argumentierte mit den schützenswerten Interessen des Kindes. Im Beschluss klingt es, als gingen die Richter:innen – irrtümlich – davon aus, dass ein Kind der Ehefrau auch das Kind des Marokkaners ist. 

Die Abschiebung sei offensichtlich rechtswidrig und stehe im Widerspruch zur ersten Entscheidung des Gerichts, heißt es in dem Beschluss, der LTO vorliegt. Beide Antragsgegner hätten es "in Kenntnis dieses Beschlusses und unter grober Missachtung ihrer Bindung an Recht und Gesetz unterlassen, die Abschiebung des Antragstellers auszusetzen". 

LDS entschuldigt sich und startet Rückholung

Die Landesdirektion legt gegen die beiden Entscheidungen keine Beschwerden ein. Vielmehr teilt sie auf LTO-Anfrage mit: "Die Abschiebung war zu diesem Zeitpunkt bereits angelaufen, so dass die Ausländerbehörde Chemnitz und die Landesdirektion unter erheblichem Zeitdruck standen. Die Landesdirektion war selbst nicht Adressat des an diesem Tag ergangenen Beschlusses des VG Chemnitz. Dieser Umstand hat nach einer ersten Bewertung der Landesdirektion zu einer juristischen Fehleinschätzung der damit befassten Bediensteten der Landesdirektion bezüglich der Bindungswirkung des Beschlusses des VG Chemnitz gegenüber der Landesdirektion geführt. In der Folge wurde die Abschiebung nicht abgebrochen und die Bundespolizei nicht informiert." 

Der Vorgang werde in der Landesdirektion intensiv ausgewertet und intern untersucht. "Sollten sich aus der internen Untersuchung notwendiger Handlungsbedarf ergeben, wird dieser zügig umgesetzt. Wir möchten klarstellen, dass die Bindungswirkung von Gerichtsentscheidungen durch die Landesdirektion und ihre Bediensteten selbstverständlich beachtet und respektiert wird", so die Behörde. 

Die Landesdirektion stehe zur Ermöglichung der zügigen Wiedereinreise des Betroffenen und der prioritären Bearbeitung seines Visums zum Zweck der Wiedereinreise im engen Austausch mit der deutschen Botschaft in Rabat. Das Vorgehen und noch mehr bestätigt auch Anwältin Stremlau: "Die Landesdirektion ist jetzt sehr bemüht und hat sich bei meinem Mandanten entschuldigt". 

Stadt legt Beschwerde ein

Die Stadt Chemnitz hingegen legte gegen beide Beschlüsse Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht (OVG) in Bautzen ein. Erfolgreich. Das OVG hob beide Beschlüsse auf. Es sah keine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung, die die Anwesenheit des Mannes in Deutschland erforderlich machen würde. Zudem sei die Stadt Chemnitz – so wie diese selbst ausgeführt hatte – weder für die Abschiebung noch für die Rückholung zuständig (Beschl. vom 22.07.2024, Az. 3 B 111/24, 3 B 112/24). "Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz haben absolut korrekt gehandelt: Die Anwältin wurde über ihren Irrtum aufgeklärt, zudem wurde die zuständige Behörde informiert. Damit hat die Stadt Chemnitz alles getan, um die Angelegenheit – aufgrund der Dringlichkeit – umgehend aufzuklären", so die Stadt gegenüber LTO.

Die Stadt ist exkulpiert: Da sie nicht zuständig war, wirft ihr der Senat – ganz im Gegensatz zum VG – kein Fehlverhalten vor. Sie war nach der OLG-Entscheidung nicht die richtige Adressatin und gab alle Informationen weiter. Der Senat hatte allerdings jetzt – nach Vollzug der Abschiebung – auch mehr Zeit als das VG im Eilverfahren.

Die Beschlüsse des VG Chemnitz sind gegenüber der Stadt damit aufgehoben. Das betrifft den ersten Beschluss in Bezug auf die Abschiebung – die war danach nicht rechtswidrig – sowie die Verpflichtung zur Rückholung – dies allerdings nur in Bezug auf die Stadt. 

Da die Landesdirektion keine Beschwerde eingelegt hatte und die Entscheidung nur zwischen den Parteien gilt, besteht die Verpflichtung der Landesdirektion zur Rückholung allerdings weiter fort. Die könnte allerdings auch noch Beschwerde einlegen, die Frist beträgt gem. § 46 VwGO zwei Wochen nach Bekanntgabe des Bescheides. Für die Begründung hat sie dann gemäß § 147 Abs. 1 VwGO noch einen Monat Zeit. 

Zitiervorschlag

Behörden in Sachsen lassen Gerichtsbeschluss ins Leere laufen: . In: Legal Tribune Online, 23.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55059 (abgerufen am: 23.07.2024 )

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