Bei Abschiebungsverboten müssen Familienkonstellationen umfassend berücksichtigt werden. Wenn eine Familie zusammenlebt, muss eine individuelle Beurteilung dies voll berücksichtigen, so das BVerwG. Das Urteil erklärt Constantin Hruschka.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat seine Rechtsprechung zur Beurteilung von Gefahren für Flüchtlingsfamilien bei einer Rückkehr geändert und dabei der divergierenden Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe ein Ende gesetzt.
Um zu beurteilen, ob Menschen in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Rückkehrprognose an. Dies ist eine der schwierigsten Fragen bei der Beurteilung des Schutzbedarfs in asylrechtlichen Entscheidungen. Denn unabhängig von der Schutzform (Asyl, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz oder nationales Abschiebungsverbot) ist der Schutz in einem Asylverfahren in aller Regel nämlich nur zu gewähren, wenn bei Rückkehr eine ernsthafte Gefahr einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung droht.
Dabei ist die Situation vor der Ausreise zwar ein wichtiges Indiz für die Entscheidung. Der Blick ist aber auch bei einer Vorverfolgung immer auf den Rückkehrzeitpunkt zu richten. Dabei ist gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 Asylgesetz (AsylG) die Situation zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zugrunde zulegen. Bei dieser Prognose wird auch bei Familien die Situation für jedes Mitglied individuell beurteilt. Diese individuelle Prüfung ist grundsätzlich in asylrechtlichen Fällen erforderlich und anerkannt. Das BVerwG hat nun die Standards für diese Prognose von Gefahren bei – hypothetisch unterstellter - Rückkehr in asylrechtlichen Fällen teilweise präzisiert und seine Rechtsprechung dazu für Familienkonstellationen partiell geändert (Urt. v. 04.07.2019, Az. 1 C 45.18 u.a.).
Dem Urteil lag eine Revision eines afghanischen Klägers zugrunde. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bautzen hatte die Asylgesuche der Familie abgelehnt, für die Frau und die Kinder aber das Bestehen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) festgestellt. Für den Mann allerdings gelte etwas anderes, die möglichen Gefahren bei einer Rückkehr seien für ihn separat zu würdigen und zu beurteilen, er wurde ohne Berücksichtigung seiner Familiensituation in Deutschland und damit kontrafaktisch - als alleinstehender Mann angesehen (Urt. v. 03.07.2018, Az. 1 A 215/18.A).
Scharfe Kritik vom BayVGH
Das OVG lehnte den Asylantrag ab, da „im Falle leistungsfähiger, erwachsener Männer ohne faktische Unterhaltsverpflichtungen ohne familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können.“ Dies entspricht der Rechtsprechung zu alleinstehenden Männern aus Afghanistan seitens anderer Oberverwaltungsgerichte, so beispielsweise der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg (Urt. v. 11.04.2018, A 11 S 1729/17).
Der BayVGH hatte die Entscheidung des OVG Bautzen, bei gemeinsamer Einreise die Familienmitglieder getrennt zu betrachten, bereits im November 2018 relativ scharf kritisiert, da dies nicht der geforderten lebensnahen Sichtweise bei der Feststellung von Abschiebungsverboten entspricht (VGH München, Urt. v. 08.11.2018, Az. 13a B 17.31960). Dieser Sichtweise hat sich das BVerwG nunmehr ebenfalls angeschlossen.
Allerdings hatte der BayVGH angenommen, dass bei einer getrennten Einreise der Familienmitglieder die Situation möglicherweise anders zu beurteilen sei, da dann gute Gründe dafür sprächen, die Situation der Familienmitglieder getrennt zu betrachten. Er hatte daher einem später eingereisten Familienvater in einem Fall, in dem die familiäre Gemeinschaft nicht im Heimatland begründet worden war, ebenfalls aufgrund einer individuellen Prüfung die Schutzgewährung verweigert, obwohl der Rest der Familie Schutz erhalten hatte.
Der BayVGH berief sich auf frühere Rechtsprechung des BVerwG (Urt. v. 21.09.1999, Az. 9 C 12/99 u. Urt. v. 27.07.2000, Az.9 C 9/00). Das meinte damals, es sei nicht realitätsnah davon auszugehen, dass bereits als Flüchtlinge anerkannte Familienmitglieder in die Herkunftsländer zurückkehren. Daher sei es auch nicht erforderlich, eine gemeinsame Gefahrenprognose anzustellen. Die Feststellung möglicher trennungsbedingter mittelbarer Gefahren und die Beurteilung einer möglichen Verletzung des Rechts auf Familieneinheit aus Art. 6 Grundgesetz (GG) und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sei in solchen Fällen Aufgabe der Ausländerbehörde und nicht der Asylbehörde.
Korrektur der eigenen Argumentation
Mit seinem Urteil ist das BVerwG nicht nur der Ansicht des OVG Bautzen entgegengetreten, sondern hat auch die bisherige Rechtsprechung aus den Jahren 1999 und 2000 aufgegeben, wenn die Kernfamilie im Inland „gelebt“ wird. Das heißt, dass bei einem gemeinsamen Aufenthalt im Bundesgebiet und Zusammenleben (oder ungewollter Trennung) der Ehepartner und Kinder, die Situation der Gesamtfamilie zu Grunde zulegen ist.
Damit ist auch für die individuelle Prüfung des Schutzes von einer gemeinsamen Rückkehr auszugehen. Dies führt nach der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung zur Lage in Afghanistan – in dieser Frage sind sich BayVGH, OVG Bautzen und VGH Baden-Württemberg einig - dazu, dass bei Familien mit kleinen Kindern aus Afghanistan alle Familienmitglieder (mindestens) ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG erhalten.
Das BVerwG schützt mit seiner Entscheidung nicht nur afghanische Familien, sondern korrigiert auch seine juristische Argumentation aus dem Jahr 1999 für das Vorgehen, wenn einzelne Familienmitglieder bereits einen Schutzstatus erhalten haben. Es ist, wenn eine durch Art. 6 GG/Art. 8 EMRK geschützten Familieneinheit vorliegt, nunmehr in allen Fällen auf die hypothetische Situation einer Rückkehr im Familienverband abzustellen.
Trennung bei Straftaten bleibt möglich
Wohl für schwere Straftäter und andere Personen, bei denen ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vorliegt, lässt sich das BVerwG aber eine Hintertür offen. Es betont, dass es nicht entschieden hat, ob dies auch gilt, wenn „wenn eine Familientrennung ausnahmsweise mit dem besonderen Familienschutz nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK vereinbar wäre“.
Für den rechtlichen Schutz der Familieneinheit der betroffenen Personen und den besonders für die Ausländerbehörden immer wieder komplizierten Umgang mit der rechtlichen Situation von Familien, in denen der asylrechtliche Status unterschiedlich ist, ist die Entscheidung eine gute Nachricht, da diese Unterschiede nunmehr deutlich seltener vorkommen dürften. Da der asylrechtliche Status in aller Regel auch den ausländerrechtlichen Status bestimmt, ist auch auf dieser Ebene die Familie grundsätzlich einheitlich zu behandeln. Dies vereinfacht die rechtliche und tatsächliche Situation von geflohenen Familien mit Schutzbedarf, die sich gemeinsam in der Bundesrepublik Deutschland befinden, und den Umgang mit diesen Familien für die Verwaltung erheblich.
Der Autor Dr. Constantin Hruschka ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Zuvor arbeitete er als Leiter der Abteilung Protection der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH sowie als Jurist für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Er unterrichtet Europäisches Recht und Internationales, Europäisches und nationales Asyl- und Flüchtlingsrecht an den Universitäten Bielefeld, München und Fribourg (Schweiz) und war Mitglied der Eidgenössischen Migrationskommission EKM.
Einheitliche Gefahrenprognose für Eltern und Kinder: . In: Legal Tribune Online, 05.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36313 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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