Umweltverfassungsrechtler zum BVerfG-Urteil: "Jetzt han­deln, sonst droht später eine Öko­dik­tatur"

Interview von Annelie Kaufmann

29.04.2021

Das Bundesverfassungsgericht hat den Klimaschützern in wichtigen Punkten Recht gegeben – und sich nebenbei mit einem neuen Grundrecht und "intertemporaler Freiheitssicherung" befasst. Was heißt das wirklich?

LTO: Herr Professor Calliess, hat das Bundesverfassungsgericht heute ein neues Grundrecht gefunden?

Calliess: Die Beschwerdeführenden haben sich unter anderem auf das Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum gestützt. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar maßgeblich auf die Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 und 14 GG abgestellt, es hat sich aber mit diesem Grundrecht auseinandergesetzt und hält es zumindest für möglich, dass ein solches Grundrecht eine eigenständige Wirkung entfalten kann.

Von Umweltverfassungsrechtlern – auch von mir – wurde aber schon lange gefordert, dass man solch ein Grundrecht anerkennt. Wenn es ein Grundrecht auf ein soziales Existenzminimum gibt, dann muss es auch ein Recht darauf geben, in einer menschenwürdigen Umwelt zu leben. Ich freue mich, dass das beim Bundesverfassungsgericht angekommen ist. Das ist wichtig, weil der Kontrollmaßstab hinsichtlich der Schutzpflichten des Gesetzgebers vom BVerfG bislang nicht sehr transparent und kohärent gehandhabt wurde. Kommt es hier zur Vertretbarkeitskontrolle am Maßstab des Untermaßverbots oder bleibt es bei der sog. Evidenzkontrolle? Beim Grundrecht auf das ökologische Existenzminimum ist der Maßstab mit Blick auf die planetaren Grenzen klar. Zu diesen zählt das im Pariser Klimabkommen vereinbarte 1,5-2 Grad-Ziel, zu dem Abstand gehalten werden muss.

Spielt Art. 20a Grundgesetz (GG), in dem es heißt, der Staat schütze "auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere" nun eine völlig neue Rolle?

Ja, auf jeden Fall. Noch 2019 habe ich einem Interview konstatieren müssen, dass der Klimaschutz ein verfassungsrechtliches Schattendasein führt. Das ist nunmehr anders. Das Bundesverfassungsgericht hat Art. 20a GG in einer Koppelung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG* zum ersten Mal wirklich mit Leben gefüllt. Und das Spannende ist: All das knüpft an die Erkenntnisse der Erdsystemwissenschaften zum Klimawandel an. Es wird deutlich, dass die planetaren Grenzen im Rahmen von Art. 20a GG eine Rolle spielen: Wenn wir bestimmte Grenzen bei der Erderwärmung reißen, dann kommt es zu irreversiblen Prozessen, man spricht von Kipppunkten, die wir nicht mehr kontrollieren können. Deshalb muss der Gesetzgeber Regelungen treffen, die gewährleisten, dass wir diese planetaren Grenzen nicht überschreiten und zu diesen im Lichte des Art. 20a GG immanenten Vorsorgeprinzips „Abstand halten“.

Der Erste Senat spricht in seiner – einstimmigen – Entscheidung von "intertemporaler Freiheitssicherung". Ist das eine neue Rechtsfigur, die uns nun öfter begegnen wird?

Das ist neu und das ist ein großer Fortschritt. Allerdings hat der Erste Senat das strikt an Art. 20a GG festgemacht. Denn dort ist eben ausdrücklich von "künftigen Generationen" die Rede. Auf diese Weise hat das BVerfG die politische Langfristperspektive gestärkt, indem es die Freiheitsverträglichkeit des Klimaschutzes auf die künftigen Generationen erstreckt. Hierauf gestützt muss der Gesetzgeber das Klimagesetz nun nachbessern und bis 2050 planen. Wegen der Koppelung von Art. 20a GG mit den grundrechtlichen Schutzpflichten kann man das aber nicht auf andere Grundrechte übertragen. Es werden also nicht alle etwaigen zukünftigen Grundrechtsverletzungen justiziabel. Ich denke, das hat der Senat auch sehr bewusst so gemacht.

"Eigentlich hätten wir diese Entscheidung schon vor zehn Jahren gebraucht"

Le(c) Prof. Dr. Rolf-Christian Calliessgt das BVerfG denn die Politik nun wirklich darauf fest, mehr für den Klimawandel zu tun? Oder lässt es dem Gesetzgeber letztlich doch einen sehr weiten Spielraum?

Entscheidend ist: Der Gesetzgeber muss jetzt nachbessern bis 2050. Er muss ein schlüssiges und kontrollierbares Konzept vorlegen. Das geltende Klimaschutzgesetz muss dynamisiert werden. Denn wenn bis 2030 zu zögerlich auf den Klimawandel reagiert wird, müssen danach sehr viel schärfere Maßnahmen ergriffen werden – und es müsste zu massiven Freiheitsbeschränkungen kommen. Um es plakativ zu sagen: Wir müssen jetzt handeln, sonst droht später eine Ökodiktatur. Klimaschutz muss im Rechts- und Umweltstaat des Grundgesetzes freiheits- und demokratieverträglich sein, das wird in der Wissenschaft schon lange gefordert, und dafür müssen wir jetzt handeln. Der Gesetzgeber muss ein effektives und kohärentes Schutzkonzept vorlegen, dessen Einhaltung im politischen Prozess beständig überprüft und kontrolliert werden muss. Ansonsten können eben wieder die Bürger nach Karlsruhe gehen und sagen: Das reicht nicht.

Das BVerfG hat grundsätzlich Schutzpflichten des Gesetzgebers in Bezug auf den Klimawandel anerkannt, aber in diesem Fall keine Schutzpflichtverletzung festgestellt. Hat es Ihrer Ansicht nach die Bedeutung von Schutzpflichten eher gestärkt oder eher geschwächt?

Die klassischen Schutzpflichten werden in dem Beschluss so behandelt wie immer, der Kontrollmaßstab wird nicht im Lichte des Untermaßverbotes konkretisiert. Das ist enttäuschend finde ich. Aber zum ersten Mal tut sich nun trotzdem etwas: Bisher kam es nie zu einer inhaltlichen Prüfung von Art. 20a GG, weil es schon bei der Klagebefugnis nicht weitergeht, wenn keine evidente Schutzpflichtverletzung vorliegt. Aber nun hat das BVerfG im Rahmen der Beschwerdebefugnis eine Verletzung von Schutzpflichten für möglich gehalten und kommt im Wege einer erstaunlich weiten Auslegung des „Betroffenseins“ zu einer Koppelung mit Art. 20a GG. Das ist neu und hat wirklich weitreichende Folgen, damit lässt sich nun überprüfen, ob der Gesetzgeber seiner Pflicht zum Klimaschutz wirklich nachkommt und wirksam von einer Überschreitung der planetaren Grenze des 1,5-2 Grad-Ziels wegsteuert.

Wie überrascht waren Sie?

Ich war dann doch sehr überrascht – obwohl alle diese Fragen, das Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum, die grundrechtlichen Schutzpflichten und die Verantwortung für die zukünftigen Generationen  in Art. 20a GG ja schon lange diskutiert worden sind. Immer hat das BVerfG den umweltpolitischen Spielraum des Gesetzgebers, gerade im Vergleich zu anderen Politiken, sehr großzügig gefasst.  Nun hat das BVerfG die diesbezügliche Kritik in der Wissenschaft aufgenommen und fruchtbar gemacht. Ich denke, es spielt eine Rolle, dass sich der gesellschaftliche Druck bei diesem Thema verstärkt hat. Vielleicht spielt auch der Wechsel an der Spitze des Gerichts eine Rolle. Eigentlich hätten wir diese Entscheidung aber natürlich schon vor zehn Jahren gebraucht.

*Hinweis auf Art. 2 Abs. 1 GG ergänzt am 5.5.2021

Christian Calliess ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht und Europarecht an der FU Berlin und forscht seit langem u.a. zum Thema Umweltschutz im freiheitlichen Rechtsstaat. Von 2008-2020 war er Mitglied im die Bundesregierung beratenden Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), der im Juni 2019 ein Sondergutachten mit dem Titel „Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen“ mit vielfältigen Reformvorschlägen vorgelegt hat.

Zitiervorschlag

Umweltverfassungsrechtler zum BVerfG-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 29.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44851 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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