BVerfG zur Fixierung in der Psychiatrie: Frei­heit bleibt auch in Unf­rei­heit geschützt

Gastbeitrag von Prof. Dr. Alexander Baur

24.07.2018

Das BVerfG fordert einen Richtervorbehalt für die Fixierung während einer psychiatrischen Unterbringung. Ob den Patienten damit aber wirklich geholfen ist, steht auf einem anderen Blatt, findet Alexander Baur.

Freiheit ist ein hohes Gut. Die Verfassung schützt sie in besonderer Weise vor staatlichen Eingriffen. Ein wirkungsmächtiger Schutzmechanismus unseres Grundgesetzes ist der Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG: Danach ist eine Freiheitsentziehung ohne richterliche Entscheidung nicht zulässig. Was aber gilt, wenn ein Richter schon einmal über die Entziehung der Freiheit entschieden hat? Konkret: Was gilt etwa, wenn ein Richter eine Psychiatrieunterbringung angeordnet hat, aber die während der Unterbringung verbliebenen Freiheiten noch weiter beschränkt werden sollen? Welches Maß an Freiheitsentziehung ist bereits von der richterlichen Anordnung der Unterbringung in der Psychiatrie gedeckt? Und wann beginnt die "Freiheitsentziehung in der Freiheitsentziehung", über die ein Richter erneut entscheiden muss?

Über diese Fragen hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Urteil vom Dienstag zu entscheiden (Az. 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16). Zwei Patienten hatten Verfassungsbeschwerde erhoben, weil sie während einer richterlich angeordneten Psychiatrieunterbringung körperlich fixiert worden waren. Dabei wurde im einen Fall die Fesselung an ein Krankenbett an beiden Armen, Beinen sowie um Bauch, Brust und Stirn (sog. 7-Punkt-Fixierung), im anderen die Fesselung an Bauch und Extremitäten (5-Punkt-Fixierung) – mitunter über mehrere Tage wiederholt – angewandt.

Das BVerfG schwenkt mit seiner Entscheidung auf eine vermittelnde Linie ein. Festzuhalten ist zunächst: Die Fixierung ist weiterhin zulässig. Zudem braucht es nicht für jede Vertiefung einer Freiheitsentziehung eine erneute richterliche Entscheidung. Denn einfache Disziplinarmaßnahmen oder Sicherungsmaßnahmen verschärfen nur die Art und Weise des Vollzugs der bereits richterlich angeordneten Freiheitsentziehung. Das gilt in den Augen des BVerfG auch für die kurzfristige Fixierung bis zu höchstens einer halben Stunde Dauer.

Anders einzuordnen ist hingegen eine länger andauernde 5-Punkt- oder gar 7-Punkt-Fixierung des Patienten: Eine solche Fesselung erreicht eine eigene Eingriffsqualität – was in den Augen des Zweiten Senats den Richtervorbehalt erneut auslöst.

Gefahr: Verantwortung könnte zwischen Arzt und Richter hin- und hergeschoben werden

Dass sich das BVerfG für einen weitgehenden Grundrechtsschutz entscheiden hat, ist grundsätzlich zu begrüßen. Völlig zu Recht weist das BVerfG darauf hin, dass Grundrechtseingriffe in der Psychiatrie besonders kritisch zu sehen sind. Die Psychiatrie ist ein geschlossenes System. Geschlossene Systeme schränken die Möglichkeiten der Unterstützung und Begleitung durch Außenstehende ein und versetzen den Untergebrachten in eine Situation außerordentlicher Abhängigkeit. Das gilt erst recht bei einer Psychiatrieunterbringung, weil psychisch Kranke häufig nicht in der Lage sind, selbst für ihre Rechte einzustehen.

Ob der Richtervorbehalt dieser Problematik sinnvoll begegnen kann, ist aber eine andere Frage. Fixierungen sind Krisenmaßnahmen. Sie müssen schnell gehen. Sie können und dürfen nur kurzfristige Reaktionen auf problematische Zuspitzungen sein. Ein Richter wird deswegen in der Praxis meist nur nachträglich über die bereits ärztlich angeordnete Fixierung entscheiden können. Daran wird auch der vom BVerfG in seiner Entscheidung ausdrücklich geforderte richterliche Bereitschaftsdienst wenig ändern. Am Rande erwähnt: Der Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG gilt – so das BVerfG – ab sofort: Zwar hat der Gesetzgeber bis zum 3. Juni 2019 Zeit, für eine verfassungsmäßige Regelung zur Fixierung zu sorgen. Der Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 GG ist aber schon jetzt unmittelbar anzuwenden.

Schon heute haben viele Bundesländer Erfahrungen mit dem Richtervorbehalt bei Psychiatrieunterbringungen. Ihre Unterbringungsgesetze machen ihn zur Voraussetzung für eine Zwangsbehandlung. Manch ein Richter merkt dazu halb resigniert an, man solle doch einmal versuchen, die ärztlich vorgeschlagene Dosierung des Medikaments aus Verhältnismäßigkeitsgründen zu halbieren. Gemeint ist: Wo Richtervorbehalte geschaffen werden, ohne dass den Richtern relevante eigene Entscheidungsspielräume verbleiben, entsteht ein Formalismus. Einen solchen Formalismus kann man gut heißen – zumal dann, wenn es um den Schutz von Grundrechten geht. Justizökonomie ist hier jedenfalls kein Argument. Zudem, selbst wenn es nur ein Formalismus ist: Braucht man den Richter, wird man als Arzt die Notwendigkeit einer bestimmten Maßnahme vielleicht doch noch einmal kritisch hinterfragen.

Das Problem liegt freilich andernorts. Bei einer "Arbeitsteilung" zwischen Arzt und Richter geht die klare Verantwortungszuweisung ein Stück weit verloren: Der Arzt beantragt die Zwangsbehandlung und künftig die Fixierung, der Richter wird in den allermeisten Fällen – was soll er anderes tun – der Sachverhaltsschilderung und der sachkundigen Einschätzung des behandelnden Arztes folgen. Am Ende droht die Gefahr, dass sich Verantwortlichkeiten nicht verdoppeln, sondern gegenseitig auflösen: Der Richter vertraut der Einschätzung des Arztes, der Arzt setzt nur eine richterlich angeordnete Maßnahme um.

Wichtiger scheint es da, klare und restriktive gesetzliche Regelungen zu schaffen. Auch das fordert das BVerfG. Nicht nur ein Richtervorbehalt, sondernd auch das Wissen um die Kontrollierbarkeit des eigenen Handelns durch Aufsichtsbehörden und Gerichte wirkt disziplinierend. Dafür braucht es neben sensibilisierten Aufsichtsbehörden und Gerichten vor allem kontrollierbare Entscheidungen. Völlig zu Recht fordert das BVerfG deshalb nunmehr auch für die Fixierung umfassende Dokumentationspflichten. Wer tief in die Grundrechte anderer eingreift, muss sich dessen nicht nur bewusst sein, sondern er muss sein Handeln auch jederzeit rechtfertigen können.

Transparenz und ausreichende Ressourcen sind die Gebote der Stunde

Ein gewisses Misstrauen gegen die Psychiatrie ist mit Händen zu greifen. Das Gebot für den Umgang mit diesem Misstrauen lautet vor allem Transparenz. Zweifellos braucht die Psychiatrie eine effektive Kontrolle – und zwar auch von außen. Sie muss sich der Kritik auf allen Ebenen stellen. Das gilt für die Rechtschutzmöglichkeiten im Einzelfall genauso wie für mögliche Fehlentwicklungen im System. Ein Teil dieser Transparenz ist wissenschaftliche Forschung und Evaluation. Gerade hier liegt manches im Argen. Belastbares Wissen um die Rechtswirklichkeit der Unterbringung in der Psychiatrie gibt es derzeit kaum. Noch nicht einmal die vermeintlich einfachste aller Fragen, nämlich wie viele Personen derzeit bundesweit eigentlich psychiatrisch untergebracht sind, lässt sich guten Gewissens beantworten.

Es darf schließlich auch nicht völlig in Vergessenheit geraten, dass Ärzte und Pfleger in der Psychiatrie arbeiten, um Menschen erfolgreich zu behandeln und effektiv zu helfen. Ohne Zweifel: Ein fehlgeleiteter Behandlungspragmatismus muss in rechtliche Bahnen gelenkt werden und die Freiheitsgrundrechte verdienen gerade in der Psychiatrie besonderen Schutz. Grundsatzmisstrauen ist – auch bei allem Bewusstsein für die deutsche Psychiatriegeschichte – aber nicht angebracht. Häufiger als am guten Willen fehlt es in der Praxis vermutlich an den Ressourcen. Die eine oder andere Zwangsmaßnahme wäre wahrscheinlich zu vermeiden, wenn genügend Personal für grundrechtsschonendere Maßnahmen zur Verfügung stünde.

Dr. jur. Alexander Baur, M.A./B.Sc. ist Juniorprofessor für Strafrecht an der Universität Hamburg. Zu seinen Forschungsschwerprunkten zählen unter anderem das Recht des Maßregelvollzugs und hier insbesondere die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Zitiervorschlag

BVerfG zur Fixierung in der Psychiatrie: . In: Legal Tribune Online, 24.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29937 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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