"Ausgebüxt": Am Rande der Debatte zum IfSG wurden Abgeordnete von Besuchern bedrängt, gefilmt und beleidigt. Im Raum stehen u.a. strafrechtliche Vorwürfe gegen AfD-MdB. Deren Fraktion sieht sich nicht in der Verantwortung.
Haben AfD-Bundestagsabgeordnete rechte Störer und Corona-Leugner absichtlich in den Bundestag eingeschleust, um dort am Rande der Debatte zum Infektionsschutzgesetz (IfSG) für Unruhe zu sorgen und Druck auf Abgeordnete auszuüben? Das jedenfalls vermuten Parlamentarier diverser Fraktionen – mit Ausnahme der AfD selbst. In einem Schreiben an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, das LTO vorliegt, heißt es, Abgeordnete seien auf dem Weg zur Abstimmung über das Infektionsschutzgesetz von Personen drangsaliert und belästigt worden. Auch Mitarbeiter von Abgeordneten hätten sich vor den Störern in ihren Büros in Sicherheit bringe müssen und "verbarrikadiert".
In den sozialen Medien wurde am Mittwoch zudem ein Video etliche Male geteilt: Zu sehen ist, wie eine Frau vor einem Fahrstuhl im Gebäude des Bundestages Wirtschaftsminister Peter Altmaier mit ihrem Handy filmt und ihn offenbar wegen seines Abstimmungsverhaltens zum veränderten IfSG zur Rede stellen will. Als Altmaier in den Aufzug steigt, wird er von der Frau beleidigt. Auch weitere Parlamentarier, etwa der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle, waren von Besuchern auf diese Weise bedrängt worden. Daneben berichtete die SPD-Abgeordnete Katja Mast über Twitter, dass Personen auch versucht hätten, in "Büros einzelner Abgeordneter einzudringen".
Am Tag nach diesen Vorfällen verlangten nunmehr alle Fraktionen mit Ausnahmen der AfD Aufklärung des Sachverhalts und Prüfung rechtlicher Konsequenzen. Schon vor einer deswegen einberufenen Sitzung des Ältestenrates wandten sie sich in einem Brief zu den aufdringlichen Besuchern an den Bundestagspräsidenten: "Das Ziel dieser Menschen war nichts weniger, als die Behinderung der freien Ausübung unseres Mandats." Weiter heißt es: "Wie Videos, die aus dem Parlamentsgebäude live gesendet wurden, nahelegen, wurde den Personen von einem Abgeordneten der Fraktion Alternative für Deutschland (AfD) Zugang zu den Parlamentsgebäuden verschafft. Diese bewegten sich danach frei in den Gängen und es kam zu den eingangs beschriebenen Vorfällen. Ein solches Vorgehen von einem Mitglied des Bundestages ist hochgradig zu verurteilen und erfordert klare, rasche Konsequenzen."
Nötigung von Verfassungsorganen?
Dass damit auch rechtliche Konsequenzen gemeint sind, machten Politiker vor allem aus der FDP-Fraktion am Donnerstag deutlich: Gegenüber LTO bekräftigte Bundestags-Vize Wolfgang Kubicki, dass die Vorfälle durchaus eine strafrechtliche Komponente hätten. In Betracht komme die Beihilfe oder gar Anstiftung zur Nötigung von Verfassungsorganen gem. § 106 Strafgesetzbuch (StGB). Ob dies der Fall sei, müssten “die weiteren Ermittlungen zeigen."
Ähnlich äußerte sich auch der rechtspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Dr. Jürgen Martens. Ihm zufolge kommen nicht nur eine Teilnahme, sondern auch eine Täterschaft der AfD-Parlamentarier in Betracht: "Es wird insbesondere eine Strafbarkeit nach § 106 Absatz 1 Nr. 2a und §106 Absatz 2 StGB – Versuch der Nötigung von Mitgliedern eines Verfassungsorgans – zu prüfen sein“. Martens sprach davon, dass die "Corona-Kritiker" in den Bundestag "eingeschleust" worden seien.
Laut Kubicki drohten den beteiligten Abgeordneten auch Sanktionen auf Grundlage der Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT): Er verwies gegenüber LTO u.a. auf § 38 GO-BT, der z.B. den nachträglichen Sitzungsausschluss von Abgeordneten für den Fall vorsieht, dass diese die Ordnung oder die Würde des Bundestages "gröblich verletzt" haben.
Der parlamentarischen Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, zufolge müssten alle Rechtsverletzungen und Sanktionsmöglichkeiten jetzt geprüft werden. "Die Geschehnisse am Mittwoch im Bundestag sind gravierend. Die von der AfD eingeschleusten Personen wollten offensichtlich die freie Mandatsausübung der Abgeordneten und damit die Funktionsfähigkeit unseres Parlaments stören."
AfD-Rechtspolitiker Brandner: "Zwei Personen ausgebüxt"
Unterdessen ist sich die AfD keiner Schuld bewusst: Von einer "Einschleusung" durch AfD-Abgeordnete könne nicht die Rede sein, teilte ihr Rechtspolitiker Stephan Brandner auf LTO-Anfrage mit: "Zumindest einer unserer MdB hatte ordnungsgemäß und auch unter Berücksichtigung der besonderen gestrigen Bedingungen Besuchergruppen angemeldet. Aus Sicherheitsgründen war ja bekanntlich am Mittwoch die ‘Sechs-Personen-Regel' außer Kraft, nach der Bundestagsabgeordnete sechs Gäste ohne vorherige Angabe von Personalien mit ins Gebäude nehmen dürfen."
Brandner zufolge sind dann wohl zwei Personen aus diesen Besuchergruppen “ausgebüxt”. Eine Frau sei in "Heute-Show-Manier" durch die Gänge gelaufen, habe Abgeordnete angesprochen und gefilmt, so Brandner. Dass ein Mann versucht haben will, in Abgeordneten-Büros einzudringen, wollte Brandner nicht bestätigen "Sollte das aber der Fall gewesen sein, könnte dieses Verhalten unter Umständen den Straftatbestand des 106 StGB erfüllen. Dass AfD-MdB aber hierzu Beihilfe geleistet oder angestiftet haben, trifft nicht zu.”
In diesem Sinne äußerten sich am Donnerstagnachmittag auch die AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Alexander Gauland: Die AfD-Fraktion habe zu keinem Zeitpunkt "Gäste mit dem Ziel in den Bundestag eingeladen, den parlamentarischen Ablauf zu stören oder Abgeordnete an der Ausübung ihres Mandates zu behindern", stellten die beiden weiter klar. Der rechtspolitische Sprecher der AfD, Roman Reusch, teilte LTO mit: "Ob das zweifelsfrei widerliche Benehmen gegenüber Minister Altmaier bereits einen Straftatbestand erfüllt, vermag ich zurzeit ebenfalls nicht zu beurteilen, aber auch das wird sicherlich noch geklärt werden."
Damit dürfte Reusch Recht haben: Nach einer Beratung im Ältestenrat steht fest, dass der Bundestag bei der Ahndung der Vorfälle das rechtliche Instrumentarium voll ausschöpfen will. Wegen der im Raum stehenden strafrechtlichen Vorwürfe könnte alsbald die Immunität der beteiligten AfD-Abgeordneten aufgehoben werden. Prüfen will der Ältestenrat auch Ergänzungen der GO-BT, um derartige Zwischenfälle künftig besser sanktionieren zu können. Aus einem Sicherheitsbericht der Bundestagspolizei geht inzwischen hervor, dass es sich insgesamt um vier Besucher handelte, die von drei AfD-Abgeordneten - Udo Hemmelgarn, Petr Bystron und Hansjörg Müller - eingeladen worden waren. Ihnen droht jetzt ein Bundestags-Hausverbot.
Altmaier persönlich will indes keine juristischen Schritte ergreifen. Er plane nicht, Strafanzeige zu stellen, hieß es aus dem Wirtschaftsministerium.
Mit Material von dpa
Störer im Bundestag: . In: Legal Tribune Online, 19.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43488 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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