Die erzwungene Landung der Maschine mit dem regimekritischen Blogger Protasewitsch sorgt für Aufregung, die EU kündigt Konsequenzen für die belarussische Regierung an. Aber welche Regeln gelten überhaupt in der Luft und wer setzt sie durch?
Als Roman Protasewitsch von der ungeplanten Landung in Minsk hörte, soll er bereits geahnt haben, was ihm bevorstand. So geben es laut Medienberichten andere Passagiere des Fluges FR4978 der Ryanair-Maschine von Athen nach Vilnius an. Der Blogger, der zu den prominentesten Kritikern des belarussischen Regimes und des Präsidenten Alexander Lukaschenko gehört, soll demnach die Hände über den Kopf gelegt haben, "als wüsste er, dass etwas Schlimmes passieren würde".
Ob die Schilderungen zutreffend sind oder nicht, auch ein Regimekritiker dürfte sich normalerweise an Bord eines zivilen Luftfahrzeugs sicher fühlen vor den Personen, die er in mehreren tausend Fuß unter sich weiß. Jedenfalls bis Sonntagabend, als die Maschine mit Protasewitsch von ihrer geplanten Route auf den Flughafen in Minsk umgeleitet wurde, wo der Blogger schließlich festgenommen wurde. "Begleitet" wurde die Maschine dabei Berichten zufolge von einem belarussischen Kampfflugzeug, Typ MiG-29. Als Grund gab die Regierung an, es habe eine Meldung über explosive Stoffe an Bord der Maschine gegeben, was sich nach der Landung aber nicht bestätigte. Die belarussische Opposition und ausländische Politiker werfen dem Regime nun vor, die Bombendrohung fingiert zu haben, um das Flugzeug zur Landung zu zwingen und so an den zur Fahndung ausgeschriebenen Blogger Protasewitsch zu kommen.
Pilot hätte Landung verweigern dürfen
Dass diese Landungsanordnung rechtswidrig war, scheint zum jetzigen Zeitpunkt überwiegend wahrscheinlich. Zwar gewährt das Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt, auch Chicagoer Abkommen genannt, Staaten durchaus die Befugnis, Flugzeuge in ihrem Luftraum zur Landung zu zwingen. Dies jedoch nur, wenn eine Gefahrabwägung ergibt, dass das auch sinnvoll ist, erläutert Elmar Giemulla, Rechtsanwalt und Honorarprofessor für Luftrecht an der TU Berlin gegenüber LTO: "Ein solcher Eingriff ist zulässig, wenn es um die Sicherheit der Luftfahrt oder des Staates geht, aber er bringt seinerseits auch eine gewisse Gefährdung mit sich." Eine vermeintliche Bombe an Bord sei zwar natürlich ein Argument, "hier verschärft die erzwungene Landung in Minsk die Gefährdung aber, denn das Flugzeug war im Anflug auf Vilnius, was der kürzeste Weg gewesen wäre." Dass tatsächlich eine Bombe an Bord war, hält Giemulla daher nicht für schlüssig, denn sonst hätte die Regierung das Flugzeug auf kürzestem Weg weiterfliegen lassen und nicht zu einer Flugverlängerung über eigenem Luftraum gezwungen.
Dabei steht dem Piloten grundsätzlich das Letztentscheidungsrecht über seine Maschine zu, auch wenn etwa die Flugsicherung Anweisungen erteilt. Rechtlich gezwungen, die Landung durchzuführen, war er also nicht. "Wenn aber eine MiG vor ihm herfliegt, ist das eine Stufe der Eskalationskette, die bis zu einem Abschuss gehen kann", so Giemulla. "Das macht natürlich Eindruck, dann können sie das Letztentscheidungsrecht vergessen."
War erzwungene Landung von Morales ein Präzedenzfall?
Unabhängig von einer terroristischen Bedrohungslage stellt sich natürlich die Frage, ob Regierungen nicht auch ein legitimes Interesse daran haben können, Flugzeuge zur Landung zu zwingen, wenn sich darin eine gesuchte Person befindet. Man stelle sich vor, Osama bin Laden hätte zu Lebzeiten ein Flugzeug bestiegen und damit im Wissen der Regierung die USA überflogen – kaum vorstellbar, dass sie nicht eingegriffen hätte. Doch das internationale Luftfahrtrecht sieht dafür keine Handhabe vor, solange keine akute Sicherheitsbedrohung vorliegt, betont Giemulla. Anderenfalls hätte die Regierung auch nicht auf eine mutmaßlich fingierte Bombendrohung ausweichen müssen.
Der Linken-Politiker Gregor Gysi sieht dennoch einen Präzedenzfall für eine solche erzwungene Landung aus Strafverfolgungsgründen, wie er dem MDR sagt. So hätten die USA 2013 eine Landung des Flugzeugs des bolivianischen Präsidenten Evo Morales in Wien erwirkt, da sie glaubten, der bekannte Whistleblower Edward Snowden befinde sich an Bord. Auch das Portal Telepolis schreibt in dem Zusammenhang von "Doppelstandards am europäischen Himmel" und die russische Regierung wirft der EU Heuchelei vor. Auch die FAZ griff den Vergleich auf.
Als Präzedenzfall für die Geschehnisse in Minsk kann dies aber nur bedingt herhalten. Denn zivile Maschinen genießen am Himmel zahlreiche Privilegien. Dazu zählt unter anderem, dass für einen Überflug eines Gebiets keine besondere Erlaubnis notwendig ist. Anders liegt der Fall bei Staatsflugzeugen wie dem von Evo Morales, wie Giemulla sagt. Ein solches müsse vor jedem Überflug eine Genehmigung einholen, die in diesem Fall von den Überflugstaaten Frankreich, Portugal und Spanien versagt worden war.
"Der Pilot wird natürlich nervös"
Doch wie soll nun die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft ausfallen? Am Dienstag wurde bekannt, dass die Europäische Union ein Flug- und Landeverbot gegen belarussische Airlines verhängt, außerdem wird es eine Untersuchung der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation geben, die im strengsten Fall mit einem Ausschluss enden könnte. Zudem will die EU nun Investitionen in Belarus stoppen und ihre bestehende Liste mit Personen und Unternehmen erweitern, gegen die bereits wegen der gewaltsamen Unterdrückung von Protesten im Land Vermögenssperren und Einreiseverbote gelten. Wie der Spiegel berichtet, sind die Details und die Schärfe der angedrohten Sanktionen aber fraglich.
Tatsächlich gibt es auch die Möglichkeit, ein Strafverfahren gegen die belarussische Regierung, bzw. Präsident Lukaschenko selbst, einzuleiten. Eine Grundlage dafür böte etwa das Montrealer Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt, das auch Belarus ratifiziert hat. Nach dessen Art. 1 e) begeht eine Straftat, wer wissentlich unrichtige Angaben macht und dadurch die Sicherheit eines im Flug befindlichen Luftfahrzeugs gefährdet. Eine solche Gefährdung sieht Giemulla hier durchaus gegeben: "Wenn plötzlich eine MiG aufsteigt und mit den Flügeln wackelt, wird der Pilot natürlich nervös und ein nervöser Pilot ist nicht das, was wir uns in einem Flugzeug wünschen."
Wer nun ein solches Strafverfahren durchführen könnte, ist eine andere Frage. Belarus selbst wird dies vermutlich nicht tun, doch auch der Staat- sowie der Zielstaat, hier also Griechenland und Litauen, könnten ein Verfahren einleiten. Auch Polen als Registrarstaat und Irland als Niederlassungsort von Ryanair hätten eine Handhabe. Solange Belarus seinen eigenen Präsidenten nicht ausliefert, dürfte auch dies kaum praktische Folgen haben. Ein Strafverfahren gegen ein Regierungsoberhaupt wäre allerdings ein deutliches Signal, wenn auch nicht wahrscheinlich.
Müssen also künftig kritische Journalisten und Blogger zunächst einmal die Route ihres Flugs checken, bevor sie an Bord gehen, um vor der Verfolgung durch eine Regierung sicher zu sein? Giemulla fordert, auf politische Sanktionen zu setzen, um ein solches Szenario zu vermeiden. Gerade weil die Sanktionsmöglichkeiten des Luftfahrtrechts begrenzt seien, sei es umso wichtiger, in diesem Fall entschlossen zu reagieren: "Es geht hier auch um Generalprävention. Nachahmer dürfen nicht ermutigt werden, daher muss nun ein Exempel statuiert werden. Hier geht es um mehr als Luftfahrt, hier geht es um Politik, für die die Luftfahrt missbraucht wurde."
Mit Materialien von dpa
Maximilian Amos, Nach erzwungener Landung eines Ryanair-Flugzeugs: . In: Legal Tribune Online, 25.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45042 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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