2/2: Wann liegen Kündigung bzw. Entlassung vor?
So lässt das BVerfG die arbeitsrechtliche Praxis einigermaßen ratlos zurück: Ist zukünftig der Begriff der „Entlassung“ i.S.d. § 17 Abs. 1 KSchG noch weiter zu fassen, als das nach der „Junk“-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, Urt. v. 27.01.2005, Az. C-188/03) ohnehin schon der Fall ist? Bekanntlich war nach unserem herkömmlichen nationalen Verständnis des § 17 KSchG mit der „Entlassung“ der Zeitpunkt des Ausscheidens des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis gemeint, also der Ablauf der Kündigungsfrist (zuletzt BAG, Urt. v. 18.09.2003, Az. 2 AZR 79/02).
Das war insoweit konsequent, als das Kündigungsschutzgesetz begrifflich zwischen „Kündigung“ und „Entlassung“ differenziert und der Schutzzweck der §§ 17 ff. KSchG arbeitsmarktpolitisch definiert wird. Der Gesetzgeber wollte die Arbeitsverwaltung in die Lage versetzen, sich auf die zu erwartende Masse neuer Arbeitsloser einzustellen und insbesondere die Vermittlung von anderen Arbeitsplätzen zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund war eine Massenentlassung nur dann anzuzeigen, wenn eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb von 30 Kalendertagen aus dem Arbeitsverhältnis faktisch ausscheiden würde, unabhängig davon, wann die individuellen Kündigungserklärungen zugegangen waren.
Folgeprobleme der BVerfG-Entscheidung
Der EuGH vertrat in der „Junk“-Entscheidung demgegenüber die Auffassung, die Begriffe „Kündigung“ und „Entlassung“ seien aufgrund der Richtlinie 98/59/EG synonym zu verwenden, meinten also dasselbe. Das BAG schloss sich dieser Ansicht an (BAG, Urt. v. 23.03.2006, Az. 2 AZR 343/05). Seither ist auf die innerhalb von 30 Kalendertagen erklärten Kündigungen abzustellen, unabhängig davon, wann die individuellen Kündigungsfristen enden. Immerhin war man sich aber einig, dass das Rechtsgeschäft, das zur „Entlassung“ führte, innerhalb des 30-Tages-Zeitraums faktisch vorgenommen werden, die Kündigungserklärung dem Arbeitnehmer also tatsächlich zugehen musste. Es musste also auf Veranlassung des Arbeitgebers irgendetwas geschehen, das die Rechtsfolge „Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ unmittelbar herbeiführt.
Das BVerfG meint nun, es sei verfassungsrechtlich geboten, bei Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz bereits den bloßen Entschluss zu der erst später auszusprechenden Kündigung anzeigepflichtig zu machen – jedenfalls dann, wenn innerhalb des maßgeblichen 30-Tages-Zeitraums der Antrag an die Behörde gestellt wird, eine beabsichtigte Kündigung (etwa nach § 18 BEEG gegen Arbeitnehmer in Elternzeit) für zulässig zu erklären. Das BVerfG trennt nicht sauber zwischen Willensbildung und Willenserklärung, fingiert aus dem bloßen Antrag die anzeigepflichtige Entlassung und erweitert so den Entlassungsbegriff erheblich. Nur hat weder die Arbeitsverwaltung davon arbeitsmarktpolitisch irgendetwas, noch stellt der Antrag an die Behörde zivilrechtlich ein Rechtsgeschäft dar.
Konsequenzen für die Praxis
Und jetzt? Man wird das Urteil des BVerfG wohl so interpretieren müssen, dass bereits alle Anträge an Behörden, die Kündigung eines besonders geschützten Arbeitnehmers für zulässig zu erklären, als „Entlassung“ innerhalb des 30-Tages-Zeitraums mitzählen und bei Überschreitung des Schwellenwertes angezeigt werden müssen. Augen auf bei schwerbehinderten Menschen, Schwangeren sowie Vätern und Müttern in Elternzeit: Wer deren Kündigung zum falschen Zeitpunkt auch nur beabsichtigt, macht sich anzeigepflichtig. Und was passiert eigentlich, wenn die von der Behörde soeben für zulässig erklärte Kündigung im zeitlichen Zusammenhang mit Kündigungen anderer Arbeitsverhältnisse erklärt wird und gemeinsam mit diesen den Schwellenwert des § 17 KSchG übersteigt? Muss sie dann erneut angezeigt werden? Oder nur dann, wenn nicht schon der Antrag an die Behörde als solcher als anzeigepflichtige „Entlassung“ gegolten hat?
Auch das BAG hat auf all diese Fragen offensichtlich noch keine Antwort parat. Jedenfalls enthält die Pressemitteilung zu dem der Kündigungsschutzklage nunmehr stattgebenden Urteil vom 26. Januar 2017 (Az. 6 AZR 442/16) hierzu nur den Hinweis, dass der 6. Senat an die vom BVerfG vorgenommene Erweiterung des Entlassungsbegriffs „ungeachtet der Probleme“ gebunden sei, die hierdurch entstehen – das klingt frustriert. Manchmal verdienen auch Arbeitsrichter den besonderen Schutz der Rechtsordnung.
Stephan Altenburg ist Fachanwalt für Arbeitsrecht, Partner der Kanzlei ALTENBURG Fachanwälte für Arbeitsrecht und Lehrbeauftragter für Arbeitsrecht an der Hochschule Fresenius in München.
Anzeigepflicht beim Sonderkündigungsschutz: . In: Legal Tribune Online, 27.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21915 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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