Die Folgen des verheerenden Erdbebens vor der japanischen Küste haben die Diskussion um die Sicherheit von Atomkraftwerken auch in Deutschland wieder voll entfacht. Ihren "Ausstieg aus dem Ausstieg" hat die Bundesregierung vorerst ausgesetzt. Im LTO-Interview spricht Prof. Dr. Walter Frenz nicht nur über die Zulässigkeit des so genannten Moratoriums, sondern auch über seine Notwendigkeit.
LTO: Am Montag hat die Bundeskanzlerin ein dreimonatiges Moratorium für die erst im Oktober vergangenen Jahres beschlossene Verlängerung der Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke (AKW) verkündet, die Verlängerung also für drei Monate ausgesetzt. Nun sollen sieben Meiler vorübergehend vom Netz genommen und die Sicherheit aller deutschen AKW erneut überprüft werden. Um welche Kraftwerke geht es dabei konkret?
Frenz: Betroffen sind alle AKW, die vor 1980 in Betrieb genommen wurden. Deren Laufzeit sollte mit dem Elften Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes aus dem Jahr 2010 um acht Jahre verlängert werden. Diese Verlängerung hat man nun ausgesetzt, so dass die Meiler vom Netz genommen werden, wie dies von der rot-grünen Bundesregierung ursprünglich geplant war.
LTO: Alle sieben nun vorläufig vom Netz genommenen AKW hätten also ohne die von der schwarz-gelben Regierung beschlossene Laufzeitverlängerung schon zum jetzigen Zeitpunkt oder binnen der nächsten drei Monate vom Netz gehen müssen?
Frenz: Nein. Nachdem Anträge der Energieversorgungsunternehmen für eine Verlagerung von Laufzeiten neuerer Kernkraftwerke auf alte Meiler abgelehnt worden waren, hat erst die Laufzeitverlängerung den weiteren Betrieb ermöglicht. Im Jahr 2011 wären allerdings bei dem von Rot-Grün geplanten Atomausstieg nur Neckar-Westheim I, Isar I/Essenbach und Biblis A abgeschaltet worden.
"Dauerhafte Aussetzung der Laufzeitverlängerung bedarf einer gesetzlichen Grundlage"
LTO: Vor allem vor dem Hintergrund, dass um die Verlängerung der Laufzeiten monatelang gestritten wurde, weil nicht klar war, ob das Gesetz zustimmungsbedürftig ist: Kann die Bundesregierung nun die Verlängerung einfach wieder aussetzen?
Frenz: Ob das Gesetz zustimmungsbedürftig ist, bleibt umstritten und ungeklärt, bis das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden hat. Maßgeblicher Ansatzpunkt für eine Zustimmungsbedürftigkeit ist nach dem Bundesverfassungsgericht, ob dem Gesetz "ein neuer Inhalt und eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verliehen" wurde.
Angesichts der Vorfälle in Japan dürfte dies auch bei einer bloßen Laufzeitverlängerung der Fall sein. Nicht umsonst hat die Bundesregierung jetzt ein Moratorium und eine vollständige Sicherheitsprüfung aller Kernkraftwerke beschlossen. Bei einer Verlängerung besteht das mit dem Betrieb von Kernkraftwerken verbundene Restrisiko fort; sie erfordert daher eine entsprechend langfristigere Sicherheitsgewährleistung auch älterer Meiler.
Das muss politisch verantwortet werden und ist keine bloße Frage eines verlängerten Verwaltungsvollzugs ohne neuen Gehalt. Vielmehr liegt darin eine wesentlich andere qualitative Tragweite. Daher ist meines Erachtens die Aussicht dafür, dass das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht besteht, ohnehin unsicher.
Unabhängig davon sind aber die Energieversorgungsunternehmen durch die Laufzeitverlängerung normativ begünstigt, so dass ihnen diese Position nicht ohne weiteres entzogen werden kann. Für eine dauerhafte Aussetzung der Laufzeitverlängerung bedarf es in jedem Fall einer gesetzlichen Grundlage, die aktuell noch fehlt – es sei denn, die Kraftwerksbetreiber sind selbst mit einer Laufzeitverkürzung einverstanden.
"Greifbare Gefahr kann eine Eigentumsbeeinträchtigung rechtfertigen"
LTO: Sprechen wir nicht über einen Eingriff in die Eigentumsrechte der AKW-Betreiber?
Frenz: Die Laufzeitverlängerung hat einen Teil des Eingriffs in das Eigentumsrecht der AKW-Betreiber wieder rückgängig gemacht, der sich aus dem von der rot-grünen Bundesregierung ins Werk gesetzten Atomausstieg ergeben hatte. Um den Ausstieg eigentumsrechtlich verträglich zu machen, ist er damals nicht sofort erfolgt, sondern griff erst nach der Abschreibung der betroffenen Kernkraftwerke. Damit war dann selbst die von der rot-grünen Bundesregierung vorgesehene Beendigung der Kernkraftnutzung mit dem Eigentumsrecht vereinbar.
Diese Vereinbarkeit besteht daher auch einer Rücknahme der Laufzeitverlängerung. Damit wird nur der von Rot-Grün verfassungsverträglich gemachte Zustand wieder hergestellt.
Hinzu kommt, dass die Laufzeitverlängerung aktuell vor dem Hintergrund einer dramatischen Entwicklung in einem anderen Land ausgesetzt wird, die auch hierzulande nicht auszuschließen ist. Die Gefahr, die eine Eigentumsbeeinträchtigung zu rechtfertigen vermag, ist damit wesentlich greifbarer als bei dem Atomausstieg der rot-grünen Bundesregierung.
"Gefährdung in Deutschland nicht auszuschließen"
LTO: Angela Merkel hat in Bezug auf die sofortige Abschaltung der ältesten Meiler von einer "staatlichen Anordnung aus Sicherheitsgründen" gesprochen, Umweltminister Röttgen hat erklärt, das geltende Atomgesetz decke die vorübergehende Abschaltung ab. Gibt es für diese Abschaltung eine Rechtsgrundlage? Nach Medienangaben beruft die Regierung sich dabei auf § 19 Abs. 3 AtomG – liegt ein atomarer Sonderfall im Sinne dieser Vorschrift vor?
Frenz: Ja, § 19 Abs. 3 Nr. 3 AtomG ist meines Erachtens hier einschlägig. Die Norm ermöglicht die einstweilige Einstellung des Betriebs von Kernkraftwerken, um einen Zustand zu beseitigen, aus dem sich durch die Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können. Angesichts des sich in Japan zeigenden extrem hohen Gefährdungspotentials sind die Anforderungen an solche Gefahren niedrig anzusetzen; sie müssen schon nach dem Gesetzeswortlaut nur "möglich" sein. Auch in Deutschland ist eine solche Gefährdung momentan nicht auszuschließen.
Dabei geht es weniger um Erdbeben der Stärke, die es jetzt in Japan gegeben hat. Diese sind in Deutschland kaum denkbar. Entscheidend ist aber, dass man sich überlegt, wie generell auf Unterbrechungen der Stromzufuhr reagiert werden kann. Eine solche Unterbrechung könnte hierzulande vor allem durch Schneedruck ausgelöst werden. In diesem Fall ist eine Kühlung der Brennelemente nicht mehr gewährleistet. Zu einer solchen Überprüfung ist im Rahmen des jetzt beschlossenen dreimonatigen Moratoriums Gelegenheit.
Diese Gelegenheit ist aber auch notwendig, damit sich daraus keine Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können, wie es das AtomG vorschreibt. Die Sicherheit der Kernkraftwerke ist nach dem Gesetzeszweck zentral und auch in § 1 Nr. 2 AtomG ausdrücklich erwähnt.
"Bei Fehlen des atomaren Sonderfalls wäre die Bundesregierung haftbar"
LTO: Die Opposition sieht die von Ihnen genannten Gefahren für nicht gegeben und spricht davon, dass sich die Bundesregierung eventuell gegenüber den AKW-Betreibern schadensersatzpflichtig macht. Was ist davon zu halten?
Frenz: Wie schon gesagt, ich gehe davon aus, dass ein atomarer Sonderfall nach § 19 Absatz 3 Satz 3 AtomG vorliegt. Sollte dieses allerdings nicht der Fall sein, würde sich die Bundesregierung in der Tat nach den Grundsätzen der Staatshaftung schadensersatzpflichtig machen. Sie hätte in diesem Fal widerrechtlich gehandelt.
LTO: Anlass der schon sehr spontan anmutenden Überprüfung der deutschen Meiler ist keine akute Gefahr in Deutschland, sondern der drohende Super-GAU nach dem Erdbeben in Japan. Abseits aller Wahlkampftaktik aber stellt sich nun tatsächlich eine neue Frage: Hat die deutsche Politik sich jahrzehntelang zu sehr nur auf die Endlagerung des Atommülls konzentriert – und dabei den zentralen Aspekt der Sicherheit, nämlich die während des laufenden Betriebs eines AKW, vernachlässigt, vielleicht auch falsch eingeschätzt?
Frenz: In der Tat wurde die Sicherheitsgefährdung durch einen längeren Zusammenbruch der Stromversorgung und damit über die Laufzeit der batteriegetriebenen Notstromaggregate hinaus offenbar nicht hinreichend in den Blick genommen. Man konnte sich allerdings einen solchen Ablauf vor dem furchtbaren Erdbeben in Japan – immerhin dem schwersten dort gemessenen – auch nicht vorstellen.
Angesichts der nicht für möglich gehaltenen Realität in einem hochindustrialisierten Land müssen die Sicherheitsaspekte in jedem Fall neu bewertet werden. Dabei bleibt die Endlagerfrage unabhängig von der nach einem Auslaufen der Kernenergie: Es ist klar, dass die vorhandenen radioaktiven Abfälle dauerhaft und langzeitsicher entsorgt werden müssen.
LTO: Herr Professor Frenz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Prof. Dr. Walter Frenz lehrt Berg-, Umwelt- und Europarecht an der RWTH Aachen.
Die Fragen stellten Pia Lorenz und Steffen Heidt.
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Atomkraftwerke: . In: Legal Tribune Online, 16.03.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2774 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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