Lehrstunde in Sachen Auslegung durch das BVerwG: Die Entlassung einer Vizepräsidentin der Hochschule Hannover war rechtswidrig. Ein richtiges Urteil, auch Wissenschaftsfreiheit darf es nicht um jeden Preis geben, findet Dennis Hillemann.
Die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz (GG) ist eines der Grundrechte, dessen Bedeutung die Rechtsprechung in den vergangenen Jahren stark betont hat. Träger der Wissenschaftsfreiheit sind nicht nur, aber doch vor allem die Hochschullehrer an den staatlichen Universitäten und Fachhochschulen wie an den nichtstaatlichen Hochschulen. Verschiedene Entscheidungen, vom Bundesverfassungsgericht bis hin zu den Instanzgerichten, ließen in den letzten Jahren eine klare Tendenz zur Stärkung der Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht mit Auswirkungen auf die Hochschul-Governance erkennen.
So hat sich die Rechtsprechung in den letzten Jahren immer wieder mit der (hochschul-)rechtlichen Ausgestaltung des Hochschulsenats im Zusammenhang mit der Wahl und Abberufung anderer Hochschulorgane durch diesen auseinandergesetzt. Die unmissverständlich klare Linie: Aus der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) folgt, dass der Hochschulsenat – mehrheitlich bestehend aus Hochschullehrern –Kompetenzen innehaben muss, die gewährleisten, dass Forschung und Lehre ausreichend Schutz zukommt. Die Wissenschaftsfreiheit hat so eine unbestritten strukturelle Komponente – Grundrechtsschutz und -verwirklichung werden auch durch Strukturen gewährleistet.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat dieser Ansicht, zumindest auf den ersten Blick, eine Absage erteilt (Urt. v. 28.06.2018, Az. 2 C 14/17). Trotz der aufgezeigten Entwicklung der Rechtsprechung konnte der Senat einer Hochschule nach dieser Entscheidung nicht rechtmäßig alleine die Vizepräsidentin abwählen. Eine generelle Absage an die strukturelle Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit mit den Kompetenzen der "Professorenmehrheit"? Auf den ersten Blick scheint es so, doch tatsächlich geht es vor allem um eine einfache Anwendung klassischer Auslegungsregeln.
OVG: "Strukturelle Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit"
Der Sachverhalt ist schnell erklärt: Die Klägerin in diesem Verfahren wurde nach der Wahl durch den Senat für den Zeitraum von April 2012 bis März 2018 als hauptamtliche Vizepräsidentin an der Hochschule Hannover ernannt. Sie wurde zur Beamtin auf Zeit ernannt. Zu Beginn das Jahres 2013 wurde das gesamte Präsidium der Hochschule – und damit auch die Klägerin – durch den Senat abgewählt, obwohl der Hochschulrat die Abwahlvorschläge des Senats nicht bestätigte. Nach § 40 S. 2 des Niedersächsischen Hochschulgesetzes (NHG) a.F. bedürfte der Abwahlvorschlag des Senats allerdings ausdrücklich der Bestätigung durch den Hochschulrat, der sich überwiegend aus hochschulexternen Personen zusammensetzt. Davon hat der Gesetzgeber keine Ausnahmen vorgesehen. Trotz eindeutigem Professorenvotum konnte damit der Senat das Präsidium nicht ohne Mitwirkung des hochschulextern besetzten Hochschulrats nach dem Gesetzeswortlaut abwählen.
Das Wissenschaftsministerium des Landes entließ die Klägerin dennoch mit Hinweis auf die besondere Rolle des Hochschulsenats und dem gebotenen strukturellen Schutz der Wissenschaftsfreiheit Gegen die Entscheidung erhob die Klägerin Anfechtungsklage.
Die Vorinstanzen hatten dagegen die Entlassungsverfügung für rechtmäßig erachtet: Neben der beamtenrechtlichen Frage hinsichtlich Entlassung eines Beamten auf Zeit im Lichte des Lebenszeitprinzips (Art. 33 Abs. 5 GG) widmete sich das OVG insbesondere Aspekten des Abwahlvorgangs unter Beteiligung von Senat und Hochschulrat. Hierbei führe entgegen dem Vorbringen der Klägerin weder die fehlerhafte Anwesenheit und Mitwirkung eines Personalratsmitglieds bei der Abstimmung im Senat, noch die fehlende Bestätigung des Abwahlvorschlags durch den Hochschulrat zur Rechtswidrigkeit der Entlassung.
Die Anwesenheit und Mitwirkung des Personalratsmitglieds bei der Abstimmung im Senat sei als unbeachtlicher Verfahrensfehler nach § 46 VwVfG einzuordnen. Die fehlende Bestätigung des Wahlvorschlags durch den Hochschulrat führe ebenfalls nicht zur Rechtswidrigkeit der Entlassungsverfügung. Zwar schreibe § 40 S. 2 NHG a.F. diese grundsätzlich vor, im Wege der verfassungskonformen Auslegung der Norm kommt das OVG jedoch zu dem Entschluss, dass der Senat trotz der "Ablehnung" des Entlassungsvorschlags durch den Hochschulrat hierüber erneut entscheiden und seine vorherige Entscheidung beibehalten kann. Eine andere Auslegung führe zur strukturellen Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit.
Wichtiges Signal für die Rechtspraxis
Das BVerwG sah das anders und gab der Revision der Klägerin statt. Zunächst ruft der 2. Senat des BVerwG die Voraussetzungen einer verfassungskonformen Auslegung lehrbuchhaft ins Gedächtnis. Dabei betonten die Leipziger Richter vor allem eins: Ausgangspunkt und Grenze einer jeden verfassungskonformen Auslegung ist der Wortlaut der Norm. Auch darf die verfassungskonforme Auslegung nicht den normativen Inhalt einer Regelung neu bestimmen. Den Wortlaut des § 40 NHG a.F. hält das BVerwG für eindeutig: Eine Abwahlentscheidung des Senats bedarf der Zustimmung des Hochschulrats. Fehlt diese, wird die Abwahl nicht wirksam. Das Ministerium durfte die Klägerin nicht entlassen.
Dieses eindeutige Ergebnis untermauert der erkennende Senat des BVerwG noch mit der Gesetzeshistorie – letztlich war die Regelung eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers. Ziel war es, die Hürden für die Abwahl des Präsidiums hochzusetzen, um diesen auch eine gewisse Freiheit zu ermöglichen. Bei Zugrundelegung sowohl des Wortlauts, als auch des Willens des historischen Gesetzgebers scheidet eine verfassungskonforme Auslegung von § 40 S. 2 NHG a.F. mit dem Ergebnis des Übergehens der Nicht-Bestätigung des Abwahlvorschlags durch den Hochschulrat aus – die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung sei durch die Vorinstanzen überschritten worden.
Hat das BVerwG nun mit seiner Entscheidung die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt? Die Antwort aus Praxissicht ist ein klares Nein. Es hat vielmehr etwas klargestellt, um ausufernden Tendenzen in der Rechtspraxis (wie auch immer weitergehende Forderungen der Professorenschaft, die die Steuerung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen zunehmend erschwert) einzugrenzen: Die Wissenschaftsfreiheit ist ein bedeutendes Grundrecht und maßgeblich für den Erfolg des deutschen Hochschul- und Forschungssystems. Aber sie steht nicht im rechtsfreien Raum für sich allein oder schlägt andere Verfassungsgrundsätze. Eine verfassungskonforme Auslegung, mag sie auch im besten Interesse der Wissenschaftsfreiheit erfolgen, schlägt nicht die Wortlautgrenze (dies gilt natürlich auch über den Wissenschaftsbereich hinaus). Vor allem aber sind die Rechte Dritter und die Verfassungsgrundsätze zum Schutz dieser Rechte zu beachten – hier der Gesetzesvorbehalt bei der Entlassung von Beamten (auf Zeit).
Die Entscheidung kann damit ein wichtiges Signal für die Rechtspraxis geben: Es gibt keinen Schutz der Wissenschaftsfreiheit "um jeden Preis". Allgemeine Rechtsgrundsätze (hier: Auslegungsregeln) wie auch Rechte Dritter können und müssen sie einschränken. Auch für Hochschulleitungen, die oftmals um Freiheit und eigene Verantwortung mit dem Hochschulsenat ringen, kann die Entscheidung daher eine wichtige Signalwirkung haben. Wie alle anderen Grundrechte muss auch die Wissenschaftsfreiheit sich in allgemeine Rechtsgrundsätze einordnen und im Wege der praktischen Konkordanz einen Ausgleich mit den Rechten Dritter suchen.
Der Autor Dennis Hillemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Senior Manager bei der KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Hamburg.
BVerwG zur Wissenschaftsfreiheit: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31205 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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