Das BVerfG hat die Begründung zu seiner Eilentscheidung über die Berliner Wahl nachgereicht. Dabei hat es eine "Solange III"-Rechtsprechung aufgestellt, mit der es die Verfassungsmäßigkeit von Wahlen in den Ländern nur im Notfall prüft.
Seit zwanzig Tagen ist Kai Wegner (CDU) Regierender Bürgermeister in Berlin. Zu verdanken hat er seinen Posten der Neuwahl am 12. Februar dieses Jahres, bei der die CDU zehn Prozent hinzugewonnen hatte – gegenüber der Wahl von 2021, die der Berliner Verfassungsgerichtshof für ungültig erklärt hatte.
Erst wenige Tage vor dem 12. Februar stand fest, dass die Wahlwiederholung tatsächlich stattfindet. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte einen Eilantrag von mehr als vierzig Abgeordneten und Wählern abgelehnt – allerdings ohne Begründung. Diese Begründung hat der Zweite Senat nun nachgereicht.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei unbegründet, weil der Antrag in der Hauptsache unzulässig sei, so die Karlsruher Richterinnen und Richter. Die Verfassungsbeschwerde sei nicht statthaft, der Schutz des Wahlrechts bei Wahlen in den Ländern sei eben Sache der Länder.
Eine "Solange III"-Entscheidung zur Wahlprüfung
Was dann folgt, liest sich wie eine "Solange III"-Rechtsprechung zur Überprüfung von Wahlentscheidungen in den Ländern: Der Wahlrechtsschutz wird grundsätzlich allein und abschließend durch das jeweilige Land gewährt. Die Verletzung von Wahlgrundsätzen, von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten kann nicht mit einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG geltend gemacht werden. Das gelte jedenfalls, "solange die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern und insbesondere die Regelung und Tätigkeit ihrer mit Aufgaben des Wahlrechtsschutzes betrauten Verfassungsgerichtsbarkeit den Homogenitätsanforderungen des Art. 28 Abs. 1 GG genügt".
Mit Art. 28 Abs. 1 GG wolle das Grundgesetz nicht Konformität oder Uniformität erzwingen, sondern nur ein Mindestmaß an Homogenität herbeiführen, das für einen Bundesstaat unerlässlich sei, heißt es weiter. Das Homogenitätsgebot verpflichte die Länder lediglich auf die Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats. Auf das Vorgehen des Verfassungsgerichtshofs – der mit seiner Entscheidung, die Wahl vollständig zu wiederholen, aber auch mit seiner Verhandlungsführung für Aufsehen gesorgt hatte – kam es dem Zweiten Senat nicht an. Einzelne Verfassungs- und Rechtswidrigkeiten seinen nicht geeignet, einen Homogenitätsverstoß zu begründen.
Allgemein gäben die Regelungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, zur Ausgestaltung des Wahlprüfungsverfahrens und auch die "Verfassungswirklichkeit" in Berlin letztlich keinen Anlass anzunehmen, dass das Homogenitätsgebot verletzt sei.
BVerfG will sich aus Streitigkeiten zu Wahlen in den Ländern heraushalten
Dass das BVerfG sich aus Streitigkeiten über Wahlen in den Ländern grundsätzlich heraushalten will, hat einen pragmatischen Grund: Man befürchtet, ansonsten mit Verfassungsbeschwerden zu fehlerhaften Wahlen überschwemmt zu werden.
Das betont der Zweite Senat ausdrücklich: Schließlich erfordere die Durchführung von Wahlen eine "Fülle von Einzelentscheidungen zahlreicher Wahlorgane", dabei seien Fehler nicht gänzlich zu vermeiden. Entsprechend würden im Anschluss an solche Wahlen in der Regel zahlreiche Wahleinsprüche erhoben. Würde das BVerfG Wahlen in den Ländern regelmäßig kontrollieren, könnte es oft sehr lange dauern, bis klar ist, ob es beim Wahlergebnis bleibt.
Die Landtagswahlen sind deshalb in aller Regel unantastbar. Man will sich zwar in Karlsruhe eine Tür offenhalten, um doch noch einzuschreiten, wenn man tatsächlich systematische und dauerhafte Verstöße und damit eine Verletzung des Homogenitätsprinzips erkennt. Aus dem Klein-Klein des Berliner Wahlchaos hält man sich aber lieber raus.
Nachgereichte Begründung mit grundsätzlichen Erwägungen
Allerdings braucht der Zweite Senat 58 Seiten und 183 Randnummern, um zu begründen, dass er bei seiner bisherigen Linie bleibt – und sie ausweitet. Bisher habe man noch nicht entschieden, ob die Sperrwirkung auch dann greife, wenn es nicht um eine Verletzung der Wahlgrundsätze gehe, sondern um einen Verstoß gegen sonstige Grundrechte oder grundrechtsgleiche Gewährleistungen. Auch in diesem Fall gelte aber die grundsätzliche Unantastbarkeit von Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte zu Fragen, die den Verfassungsraum der Länder betreffen.
Das klingt nach einer Grundsatzentscheidung – die allerdings mit drei Monaten Verspätung nachgereicht wird. Tatsächlich kann das BVerfG zwar eine Begründung zu einer Eilentscheidung nachliefern, dass das mehr als vier Wochen dauert, ist aber eher ungewöhnlich. Der Aufschub ist grundsätzlich nur dazu gedacht, dem Gericht etwas mehr Zeit für die Formulierung zu geben. Der Verfassungsrechtler Christian Walter wies aber schon im März darauf hin, dass es nicht darum gehen kann, die Begründung mit neuen Erwägungen zu versehen.
Auf dem Jahrespresseempfang des BVerfG Anfang März erklärte Berichterstatter Peter Müller, in der Kürze der Zeit sei eine Begründung nicht möglich gewesen. Er sagte auch, die zentrale Verfassungsbeschwerde werfe wesentliche Fragen auf. Das hatte eher darauf hingedeutet, dass der Zweite Senat eine summarische Prüfung der Hauptsache vornehmen würde.
Das tat er nicht, stattdessen haben sich die Richterinnen und Richter bereits festgelegt: In der noch ausstehenden Hauptsacheentscheidung können sie nun nur noch darauf verweisen, dass die Verfassungsbeschwerde eben unzulässig sei. Herr Wegner hat also nichts mehr zu befürchten und die Berliner müssen nicht zum dritten Mal wählen gehen.
Stimmverhältnis nicht bekannt
Tatsächlich dürfte das aber weniger klar gewesen sein, als die Ablehnung des Eilantrags glauben machen will. Mit welchem Stimmenverhältnis die Richterinnen und Richter entscheiden haben, teilte das BVerfG nicht mit.
Der Zweite Senat sah keinen Anlass, sich zu einer etwaigen Befangenheit von Berichterstatter Müller zu äußern. Er hatte sich im Gespräch mit dem Podcast "FAZ Einspruch" bereits kurz nach der Entscheidung des VerfGH zu den Wahlpannen in Berlin geäußert. Eine solche Situation "hätte man sich vor einigen Jahrzehnten in einem diktatorischen Entwicklungsland vorstellen können, aber nicht mitten in Europa, mitten in Deutschland", sagte Müller dort.
In einem vergleichbaren Fall war Verfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein im Februar vergangenen Jahres für befangen erklärt worden. Die Antragsteller hatten in dem Verfahren um die Berlin-Wahl allerdings keinen Befangenheitsantrag gestellt, eine Prüfung der Befangenheit jedoch angeregt. Müller selbst hielt sich nicht für befangen.
Wie das BVerfG seine Entscheidung zur Berlin-Wahl begründet: . In: Legal Tribune Online, 17.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51805 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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