Rechtsgefühle: Wut und Ärger für Juristen

von Martin Rath

31.03.2019

Gefühle sind ein Problem für den Allgemeinen Teil des Strafrechts. Im Zweifel sind hier Seelenärzte, nicht Juristen zuständig. Für Ärger und Zorn gilt dies nur bedingt: Wie beeinflussen diese Emotionen die Strafzumessung?

Unter solchen Umständen hätte man die Sache auch gleich in die eigene Hand nehmen können, statt vor Gericht zu erscheinen: Am 1. Juli 1270 trafen sich in einem Gerichtssaal zu Westminster in London John de Warenne, 6. Graf von Surrey (1231–1304), und Alan la Zouche (1203–1270), jeweils begleitet von einem bewaffneten Gefolge.

Statt einen Austausch der juristischen Argumente zu pflegen, ergriffen die Parteien, nachdem sie eher weniger freundliche Worte gewechselt hatten, ihre Schwerter gegeneinander – in Anwesenheit der Richter und des königlichen Kanzlers, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass der König und die Königin im benachbarten Palast residierten, was den Bruch des Landfriedens besonders anstößig machte.

Alan la Zouche erlitt bei dem Versuch, aus dem Gericht zu fliehen, schwere Wunden von der Hand der Männer des Grafen. John de Warenne, ein bekannter Hitzkopf, entging zunächst der Verantwortung, musste sich jedoch später Recht und Gnade des Königs unterwerfen – dem nicht nur der Bruch des königlichen Friedens ein Dorn im Auge war. Bei Alan la Zouche, der seinen Wunden erlegen war, hatte es sich um einen seiner engeren Berater gehandelt.

Wut und Zorn konnten den Täter vor harter Strafe schützen

In einem Aufsatz unter dem Titel "The Devil's Daughter of Hell Fire: Anger's Role in Medieval English Felony Cases" nimmt Elizabeth Papp Kamali, Harvard-Professorin für Strafrecht, den Vorgang aus dem Jahr 1270 u.a. zum Anlass, die eigenartige Modellierung von Straftatbeständen im mittelalterlichen englischen Recht und die Rolle von Wut und Ärger vorzustellen.

Obwohl der Graf von Surrey alles andere als ein Freund des Königs war, kam er am Ende mit einer zwar beträchtlichen Geldbuße in Höhe von 5.000 Mark davon, die er – zur Verärgerung seiner Adelsgenossen – nie in Gänze zahlen sollte. Der Todesstrafe entging er aber.

Professorin Papp Kamali zeigt, wie die mittelalterlichen englischen Juristen die Affekte der Beschuldigten zu kategorisieren begannen: Einerseits konnte eine durch Wut veranlasste Tat mit einer außerordentlich hohen Geldstrafe geahndet werden, wie der Fall de Warenne belegt. Andererseits mochte das plötzliche Ausbrechen der Wut, die auf bisher verstecktem Ärger beruhte, den Täter vor einer härteren Strafe schützen: Unter Umständen nahm der Gefühlsausbruch der Tat den Makel des Mordes.

Für die Geschworenen war dies zu entscheiden keine leichte Aufgabe, da zwar Tatbestände wie Mord, Diebstahl, Brandstiftung oder Vergewaltigung als todeswürdige Verbrechen recht klar konturiert waren, es ihnen aber schwer fiel, zwischen angeborenen Charakterschwächen, schuldhafter Wut und möglicherweise provokativen Tatumständen zu trennen.
Die heute so geläufigen Unterscheidungen zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand, zwischen Kausalelementen der äußeren Handlung und des psychischen Innenlebens sollten erst in den folgenden Jahrhunderten in strafrechtsdogmatische Formen gebracht werden. Vor einem mittelalterlichen englischen Gericht war dies noch ein recht unsortiertes Gemenge.

Wie der Ärger (nicht ganz) zum Fremdkörper wurde

Heute zählt es zu den gängigen Übungen schon in der juristischen Grundausbildung: Handlungen, die von außen zu beobachten sind, finden sich eher im Besonderen Teil (BT), die affektiven Gesichtspunkte eines möglicherweise strafwürdigen Vorgangs im Allgemeinen Teil (AT) des Strafgesetzbuchs beschrieben.

In BT-Dingen trauen sich Juristen selbst ein Urteil zu. In den Affektfragen, die vor die Klammer gezogen sind, wird im Zweifel ein Seelenarzt hinzugezogen. Dies ist nicht zuletzt Jahrhunderte langen Bemühungen von aufgeklärten Strafrechtsdogmatikern zu verdanken, die Gefühle in den Griff zu bekommen.

Dass dies bis heute nur unvollkommen gelingt, belegt u.a. § 213 Strafgesetzbuch (StGB), der seit 1872 jenen "Todtschläger" mit einer milderen Freiheitsstrafe bedroht, wenn er ohne eigene Schuld vom Getöteten "zum Zorne gereizt" und "hierdurch auf der Stelle zur That hingerissen" wurde.

Die mittelalterliche Strafrechtsdiskussion hatte für diese Vorgänge noch keine psychologischen Begriffe, aber bereits theoretische Modelle. Dass der Mensch durch den Ärger zu Handlungen motiviert sein könnte, die gegen seine besseren Absichten aus ihm herausbrechen mochten, verstand z.B. der Theologe Thomas de Chobham (ca. 1160–1236) dergestalt, dass Ärger vom Teufel ausgelöst werden konnte, wenn der Mensch unter einer insoweit empfindlichen Galle leide.

Nur Jesus Christus, der bekanntlich bei der Vertreibung der Händler aus dem Tempel dem Zorn anheimfiel, sei dabei nicht von der Vernunft verlassen worden. Denn die Theologie stellte sich den Körper Jesu bis in die Galle als makellos und teufelsfrei vor.

"Emotionales Gesetzbuch" lädt zur Wiederentdeckung ein

Das im Jahr 2005 vom Juristen Rainer Maria Kiesow (1963–) und dem Biologen Martin Korte (1964–) herausgegebene Werk "Emotionales Gesetzbuch. Dekalog der Gefühle" greift unter dem normativen Appell "Mensch ärgere Dich nicht!" einen Teil der mittelalterlichen Diskurse zum Ärger wieder auf.

Man folgte seinerzeit einerseits gerne dem antiken Philosophen Aristoteles, der behauptet hatte, der Zorn diene mitunter der Tugend und der Tapferkeit, also der Vernunft, als Waffe. Der Jurist Michel de Montaigne (1533–1596) führte jedoch den "recht witzigen" Einwand dagegen an, dies sei eine seltsame Auffassung, sei es doch sonst der Mensch, der die Waffe führe, während hier der Zorn den Menschen zu seiner Waffe mache.

Die Beiträge zum "Emotionalen Gesetzbuch" setzen bei solchen Ambivalenzen und Paradoxien der Gefühle an. Die Psychologin Birge Englich (1968–) macht z.B. darauf aufmerksam, wie wichtig es nicht zuletzt für den Justizbetrieb ist, dass Menschen wenig vernünftig mit dem Ärger umgehen: Indem sie auch eine vermutlich schon verlorene Sache weiterführen, weil sie den Ärger über das Scheitern vermeiden möchten, treiben sie ihre Angelegenheiten mitunter durch alle Instanzen, statt sie so schnell wie möglich zu vergessen – nur dass man heute nicht mehr von einer dem Teufel anheimgefallenen Galle spricht, sondern vom Problem der "gesunkenen Kosten" und von problematischen "Coping-Strategien".

Am Querulanten beweist sich der Staat als fast göttlich ruhige Einrichtung

Zu den Grenzfällen zählt das "Emotionale Gesetzbuch" den Querulanten, der sich auf den ersten Blick nicht von einem gewöhnlichen Antragsteller oder Kläger unterscheidet, aber offenbar den Ärger der Justiz auf sich zieht. Sein Anliegen erscheint nicht vernünftig, weil es womöglich allein durch eigenen Ärger motiviert ist. Von Richtern und Beamten wird wiederum verlangt, dass sie selbst dem potenziellen Querulanten gegenüber keine Verärgerung zeigen, also keinen Anlass zu Zweifeln an ihrer eigenen Affektkontrolle geben.

Die Zahl der Gerichtsentscheidungen, die der Sorge abhelfen sollen, auch die staatliche Reaktion könnte hier statt von Vernunft durch Ärger geprägt gewesen sein, lässt sich bei näherem Hinsehen kaum überblicken. Das Bundesverwaltungsgericht urteilte z.B. schon in einem Fall aus den autoritätsseligen 1950er Jahren, dass Privatpersonen Auskunft über Polizeispitzel verlangen dürften, wenn sie sich anders nicht dagegen wehren konnten, seitens der Behörde als Querulant abgestempelt zu werden (Urt. v. 30.04.1964, Az. VII C 83.63).

Der Bundesfinanzhof entschied 1983, dass ein angehender Steuerberater in der Frage, wann er in der Steuerberaterprüfung die Besorgnis der Voreingenommenheit eines Gutachters vorbringen müsse, nicht als Mensch gebrandmarkt werden dürfe, der sein Recht nur aus Gründen der Verärgerung sucht (Urt. 01.02.1983, Az. VII R 133/82).

Indem der Staat hier jeden Anschein vermeidet, Entscheidungen gegen den Bürger könnten darin begründet sein, dass dem Beamten oder Richter teuflische Verärgerung über den Verwaltungsuntertan an die Galle ging, ist er vielleicht sogar noch ein bisschen göttlicher als Jesus, dessen Ärger ja per se vernünftig war – jedenfalls wenn man dem mittelalterlichen Theologen Thomas de Chobham folgen will.

Mittelalterliche Probleme finden sich noch in der Gegenwart

Mittelalterliches Denken, wie es im Fall des Grafen de Warenne überliefert ist, findet sich gelegentlich auch noch in ganz unscheinbaren Strafrechtsfällen der Gegenwart.

So sprach beispielsweise das Oberlandesgericht Köln mit Beschluss vom 6. Mai 1997 einen Mann vom Vorwurf des Diebstahls frei. Er hatte seiner Freundin, die sich möglicherweise vorübergehend einem anderen Mann zugewandt hatte, einen Herzchen-Anhänger entzogen – die Absicht, den Eigentümer einer Sache zu ärgern, schließt hier unter Umständen die Zueignungsabsicht aus (Az. Ss 226/97 - 93 -). John de Warenne, 6. Graf von Surrey, war aus Zorn auf Alan la Zouche losgegangen, was nach damaliger Auffassung eine unbillige Tötungsabsicht ausschloss. Völlig fremd sind sich Kölner Richter der Gegenwart und englische Behörden des 13. Jahrhunderts augenscheinlich nicht.

Auch dass mit den "Brexit"-Beratungen die wohl wichtigste verfassungspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart mit einem an Monty-Python-Filme erinnernden Aufwand der Affektkontrolle  geführt wird, ist auf den Wunsch zurückzuführen, dass im Londoner Westminster nicht die Waffen gezogen werden: Indem die durchaus zu fulminanter Bösartigkeit fähigen britischen Parlamentarier ihre Redebeiträge an den "Speaker" adressieren, sollte einst vermieden werden, dass sie sich aus wechselseitiger Verärgerung zum Duell aufforderten.

John de Warenne und Alan la Zouche würden übrigens von heutigen Richtern zwecks "anger management" vermutlich erst einmal zur Schiedsfrau geschickt. Gegenstand ihrer tödlichen Auseinandersetzung war ein Nachbarschaftsstreit. Man kennt ja den Ärger.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor.

Zitiervorschlag

Rechtsgefühle: . In: Legal Tribune Online, 31.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34663 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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