Der Herr Reichspräsident hatte Erholungsurlaub nehmen müssen, während die Nationalversammlung weiter arbeitete: So wurde die Weimarer Verfassung am 11. August 1919 recht unprätentiös ausgefertigt. Das später zu feiern, gelang nicht gut.
Ein Blick ins Reichsgesetzblatt fördert manchmal solche exotischen Details aus der deutschen Rechtsgeschichte zutage wie den Ferienort des Staatsoberhaupts.
Einige Gesetze aus der Epoche Wilhelms II. geruhte seine Majestät beispielsweise während der Ferienfrische in seiner kaiserlichen Villa Achilleion auf Korfu auszufertigen, andere benennen die fürstliche Yacht vor der Küste Norwegens. Mag sein, dass damit ein wenig Glanz imperialer Reisefreude auch in den Setzerei-Betrieb der Reichsdruckerei in Berlin-Kreuzberg fiel.
Weil sich der kränkliche SPD-Politiker von den Strapazen der Revolution und der Regierungsarbeit erholen musste und daher in einen kurzen Urlaub gegangen war, kam es dazu, dass sich Reichspräsident Friedrich Ebert (1871–1925) auf ganz unprätentiöse Weise der Übung seines gekrönten Vorgängers anschloss: Nachdem die verfassunggebende Nationalversammlung sie am 31. Juli 1919 mit breiter Mehrheit der anwesenden Abgeordneten angenommen hatte, unterzeichneten Ebert und die Angehörigen der Reichsregierung die Verfassungsurkunde am 11. August 1919 im thüringischen Schwarzburg.
Als habe er die bürgerliche Schlichtheit dieses Vorgangs noch betonen wollen, strich Ebert in der ihm vorliegenden Drucksache das Wort "Entwurf" und fügte Ort und Datum handschriftlich hinzu – die Unterzeichnung des Grundgesetzes sollte beispielsweise 30 Jahre später in doch etwas zeremoniellerem Rahmen erfolgen.
Während sich Ebert in Schwarzburg im Urlaub befand, beriet die Nationalversammlung im 50 Kilometer entfernten Weimar weiter zum politischen Tagesgeschäft. Am 11. August 1919 betraf dies den Entwurf eines Grundwechselsteuergesetzes – einer Abgabe auf Grundstücksübertragungen, die auch heute noch ganz vertrauten Argumenten begegnete.
Der Abgeordnete Wilhelm Sollmann (1881–1951), SPD-Mitglied und – wofür er in der Karnevalshochburg bis heute geehrt wird – gewesener Gauleiter des Arbeiter-Abstinentenbundes Köln, drückte beispielsweise bei aller staatspolitischen Verantwortung die Befürchtung aus, dass die Steuer die Last der Mieterschaft weiter erhöhen würde.
Seine bürgerlichen Parlamentskollegen wünschten hingegen nur unter Sorgenfaltenwegen der geschundenen Reichsfinanzen der Steuer zustimmen zu müssen.
Mehr Arbeitsparlament als "pomp and circumstances"
Es mag verwundern, dass sich die Nationalversammlung nicht auflöste, wie es etwa 1949 der Parlamentarische Rat tat, nachdem er das Grundgesetz auf den Weg gebracht hatte. Doch bis der erste, am 6. Juni 1920 gewählte Reichstag zusammentrat, übernahm die Nationalversammlung seine Aufgaben – und zog nach der Arbeit, die sie in Weimar geleistet hatte, im Spätsommer 1919ins Berliner Reichstagsgebäude um.
Dies war beileibe nicht die einzige Kontinuität, die den revolutionären Bruch vom 9. November 1918 vergessen machen mochte: Kaum dass sie im Februar 1919 erstmals zusammengetreten war, hatte sich die Nationalversammlung die Geschäftsordnung gegeben, die den meisten ihrer Mitglieder aus ihrer bisherigen politischen Arbeit bereits bekannt war – jene des Reichstags aus dem Kaiserreich.
Die berühmte PhraseOtto Mayers (1846–1924), wonach "Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht", ließe sich also auch ohne Weiteres auf das Recht der parlamentarischen Selbstorganisation übertragen.
Der Umstand, dass die neue Reichsverfassung ganz unprätentiös am Ferienort des Reichspräsidenten ausgefertigt wurde, trug dazu bei, dass der jungen Republik ein allgemein anerkannter Verfassungsfeiertag fehlen sollte – die Weimarer Reichsverfassung geriet gleichsam schon den Zeitgenossen aus dem Blick.
Nationalversammlung – ein Füllhorn der Erkenntnisse
Wenn heute von der Reichsverfassung des Jahres 1919 kaum mehr als ihre durch Art. 140 Grundgesetz (GG) konservierten Vorschriften des Staatskirchenrechts und – infolge ihres traurigen Endes im Frühjahr 1933 – ihr Notstandsrecht geläufig sind, ist das bedauerlich, aber nachvollziehbar.
Verdient haben dies die Weimarer Verfassung und der politische Prozess, in dem sie beraten wurde, eigentlich nicht.
Denn kaum ein Problem, das sich einer liberalen, sozialen und demokratischen Verfassung in einer modernen Gesellschaft stellt, war während der ersten 71 Sitzungen der Nationalversammlung nicht diskutiert oder wenigstens angesprochen worden.
Wenn heute in Deutschland beispielsweise Anhänger der plebiszitären Demokratie das Schweizer Muster bejubeln, wird sich dabei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemand auch auf den Rechtsanwalt und USPD-Abgeordneten Oskar Cohn (1869–1934) beziehen, der noch ein anderes eidgenössisches Vorbild gefunden hatte: Statt eines starken Reichspräsidenten schlug Cohn 1919 ein fünfköpfiges Präsidium der neuen Republik vor, wie es aus der Schweiz bekannt ist. Konsensregierung und Volksgesetzgebung gehören sachlogisch durchaus zusammen.
Dass mit der verfassungsrechtlich verbrieften Gleichberechtigung der Frau nunmehr auch das angeblich schwache Geschlecht Verantwortung für die Geschicke des Staates übernehmen müsse, war selbst einem konservativen Abgeordneten wie Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (1845–1932) klar, dessen politische Freunde bisher stets gegen das Frauenstimmrecht opponiert hatten.
Mancher erst im Grundgesetz ausformulierte Gedanke war den Weimarer Verfassungseltern schon präsent. Der liberale Jurist Hugo Preuß (1860–1925), der im Auftrag Eberts den Verfassungsentwurf erstellte, hatte beispielsweise bereits im Kaiserreich geschrieben: "Ein Gemeinwesen kann sich nicht anders selbst regieren als durch Parteien; nur im Parteiregiment kann sich der Gemeinwille nach einer bestimmten Richtung positiv verwirklichen."
Mit der Attitüde, selbst eine Antiparteien-Partei zu sein, mit der die "Alternative für Deutschland" heute auf Stimmenfang geht wie die "Grünen" in den 1980er Jahren, konnte dieser liberale Wegbereiter der Weimarer Reichsverfassung nichts anfangen – man hatte die Erfahrung mit einer vorgeblich "über den Parteien" stehenden, neutralen Obrigkeit im Kaiserreich bereits gemacht und hielt auch die Idee eines objektiven Volkswillens für eine pluralismusfeindliche Illusion. Artikel 21 GG, der die Position der politischen Parteien gegen reaktionäres Verfassungsdenken sichert, dokumentiert eine Lehre, die Hugo Preuß bereits gezogen hatte.
Kurz gesagt: Die Protokolle der Weimarer Nationalversammlung und die Argumente der Verfassungsschöpfer anderenorts bieten ein so großartiges Ideengewimmel, dass es befremdet, wenn sie hierzulande nicht gelesen werden wie beispielsweise die "Federalist Papers" aus der Diskussion zur amerikanischen Verfassung 1787/88 – sie sind politisch gebildeten Amerikanern bis heute präsent.
Finnland fragt und die Kinder sind in Ferien
Zwar wird dem New Yorker Juristen Henry R. Estabrook wegen der folgenden, 1913 formulierten Beschwörungsformel eher mit freundlichem Spott gedacht:
"Unsere große und heilige Verfassung, durchlauchtigst und unverletzlich, dehnt ihre wohltätige Macht über unser Land aus, über seine Seen, Flüsse und Wälder, über jeder Mutter Sohn unter uns, wie der ausgestreckte Arm Gottes selbst ... O Du wunderbare Verfassung! Zauberpergament! Du Wort der Verwandlung! Schöpfer, Mahner, Hüter der Menschheit!"
Doch traf der sprachliche Pomp durchaus den Zeitgeschmack und darf nicht allein als amerikanische Verfassungsfolklore gesehen werden, die hierzulande ähnlich befremdet wie das Sternenbanner in vielen Kirchen, Synagogen und Moscheen der USA.
Für die Bundesrepublik mag das Bedürfnis nach Nüchternheit in Staatszeremonien als Reaktion auf das sich pompös inszenierende NS-Regime gelten. Die republikanischen Reichsregierungen taten sich aber aus anderen Gründen schwer, der deutschen Zivilgesellschaft die neue Verfassung als Objekt feierlicher Freude anzudienen.
Kurt Tucholsky (1890–1935) monierte, dass sich darin der Mangel an Freunden der Demokratie zeige:
Die Distanz der selbst geschaffenen Demokratie gegenüber war derart ausgeprägt, dass sogar das zu feiernde Datum zunächst offenblieb. Erst eine Anfrage der finnischen Regierung, wann man gratulieren dürfe, soll Anlass gegeben haben, sich auf den 11. August zu verständigen.
Starke Kräfte wie die Evangelische Kirche nahmen den Verfassungstag bestenfalls distanziert zur Kenntnis. Der katholische Kirchenkalender war ohnehin schon gut gefüllt. Allein die 500.000 jüdischen Bürger wurden daran erinnert, dass die liberalste und demokratischste Verfassung, die Deutschland je hatte, ihr beklagenswertes Werk sei – am 11. August 1929 beschmierten beispielsweise republikfeindliche Täter eine der Synagogen in Düsseldorf mit entsprechenden Parolen.
Dem Freistaat Bayern war der 11. August keinen Feiertag wert. Er unterließ die schwarz-rot-goldene Beflaggung von Dienstgebäuden – was in den Räten der teils bitterarmen Gemeinden zu Konflikten darüber führte, ob die alte schwarz-weiß-rote Reichsflagge überhaupt durch ein neues Stück Staatstextil ersetzt werden sollte.
Tucholsky erkannte zudem spöttisch den entscheidenden Nachteil des Datums: Weil der 11. August in den Schulferien liege, sei" die wichtigste Propaganda [behindert]: nämlich die republikanische Beeinflussung von Kindern".
So sympathisch nüchtern es gewesen war, die Verfassung ohne Pomp in der Ferienfrische auszufertigen: Respekt konnten sich die Urheber dieses großartigen juristischen Dokuments damit nicht verschaffen.
Die Weimarer Reichsverfassung: . In: Legal Tribune Online, 11.08.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36973 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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