Wahrsagerei und Recht: Juristen im Kampf gegen dämo­ni­sche Mächte

von Martin Rath

01.01.2012

Am Silvesterabend wird Blei gegossen, um die Zukunft zu deuten? Zumindest einen ungedeckten Scheck auf die Zukunft ausgestellt – die "guten Vorsätze fürs neue Jahr"? Das Horoskop zum Jahreswechsel wenigstens aus Jux und Tollerei gelesen? – Das ist die richtige Einstimmung zum juristischen Kampf um Wahrsagerei, Magie und ähnlichen Unfug. Ein Jahreswechselessay von Martin Rath.

Mit Sicherheit konnte sie nicht voraussehen, dass sie – gemessen am Aufwand – im Jahr 2011 die stärkste Wirkung mit öffentlichem Protest haben würde, sieht man von jenem tunesischen Obstverkäufer ab, dessen Suizid im Dezember 2010 die arabischen Protestbewegungen aufreizte.

Anfang 2011 rollte die Meldung durch nahezu alle Medien, eine rumänische Wahrsagerin habe, auch mit den Mitteln der Magie, gegen das Vorhaben des Parlaments in Bukarest protestiert, ihre Kunst als eine steuerpflichtige Beschäftigung einzustufen. Schwarze Magie im Heimatland des "Grafen Dracula", der Versuch von Zauberern, sich die Steuerpflicht vom Leib zu halten – das ist der Stoff, aus dem die reizvollen Stories sind.

Dass im Dezember 2011 noch einmal 15 Frauen vor dem Parlament protestieren würden, wie es heißt "mit Tarot-Karten und anderen Utensilien", weil das "Millionen-Euro"-Geschäft der Wahrsagerinnen in Rumänien nicht nur von der Steuerpflicht bedroht ist, sondern nun ein Berufsverbot diskutiert wird, hätte sich wohl Gaius Aurelius Valerius Diocletianus nicht träumen lassen, der zwischen 284 und 305 unserer Zeitrechnung als römischer Kaiser amtierte. Der Mitherrscher Roms ist heute bestenfalls als einer der letzten harten Christenverfolger bekannt, doch machte er sich – wie die Rechtshistorikerin Marie Theres Fögen (1946-2008) herausgearbeitet hat – auch mit ersten Gesetzen gegen die "ars mathematica" einen Namen. Diokletian verdammte als erster Gesetzgeber die Astrologie, die damals wie heute gerne im Orient ihren Ursprung nahm.

Augsburger Vernunft Anfang des 21. Jahrhunderts

Auch wenn der etwas zweifelhafte texanische Gelehrte Richard W. B. McCormack das Volk der Bayern zu jenen ethnischen Gruppen zählt, die "kleiner und dunkler sind als wir selbst" und damit als Gegenstand der Völkerkunde tauglich sind, fand ein Gerichtsverfahren vor dem Landgericht Augsburg im Jahr 2003 nicht annähernd jene öffentliche Aufmerksamkeit für exotische Vorgänge, die eine rumänische Magierin schon erreicht, wenn sie sich einige dunkle Worte wider die Steuerpflicht in den Damenbart murmelt.

Ein Gerichtsbeamter des Kaisers Diokletian hätte ums Jahr 300 herum nicht ins Justizwachstäfelchen kratzen dürfen, was die Augsburger Richter mit Urteil vom 13. Mai 2003 (Aktenzeichen 4 S 5354/02) festhielten: "Die Bekl. ist Wahrsagerin. Sie versprach der Kl. wirksame Hilfe bei ihren Eheproblemen durch ein speziell ausgearbeitetes schriftliches 'Konzept', welches sie der Kl. gegen Zahlung eines Honorars in Höhe von 2.500 DM aushändigte."

Im Augsburger Zivilprozess setzten sich die Parteien zur Frage auseinander, ob die "Wahrsagerin" ihren Honoraranspruch auf "Beratungsleistungen" im Rahmen esoterischer Glaubensvorstellungen stützen konnte oder ob das Geld aufgrund naturwissenschaftlich nicht nachweisbarer "weißer Magie" – im Juristendeutsch: wegen "anfänglicher objektiver Unmöglichkeit" – geleistet worden, und damit von Rechts wegen zurückzufordern war. Nach damals noch anzuwendendem Schuldrecht kam das Landgericht zu einem Rückzahlungsanspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung – der Einsatz "magischer Kräfte" blieb honorarfrei.

Ein freundlicheres Verhältnis zur magischen Profession zeigte die Polizei. Einer aufgeklärten Skepsis begegnet man noch in der aktuellen Nachricht von der Bewertung wahrsagerischer "Erkenntnisse" durch die polnischen Strafverfolgungsbehörden – in Krakau sollen Hellseher in 440 Vermisstenfällen ihre "Hilfe" angedient haben, wobei von den amtlich bekannt gewordenen Visionen ganze fünf irgendeinen Sinn ergaben. Hingegen zeugt ein gerichtsbekannter Vorgang, der sich in den späten 1990er-Jahren im Berliner Strafvollzug abspielte, von einer weniger abweisenden Haltung gegenüber magischen Bemühungen.

Berliner Aberglaube Ende des 20. Jahrhunderts

Mit Urteil vom 21. Juli 1998 gab der Bundesgerichtshof (BGH) der Revision einer Angeklagten statt, die wegen zweifachen Mordes von einem Schwurgericht im tiefsten deutschen Orient, also in Berlin, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Belastet hatte sie eine Zeugin, die "in der Berliner Justizvollzugsanstalt für Frauen eine mehrjährige Freiheitsstrafe" verbüßte und dort vorgab, "inhaftierten Frauen die Zukunft aus dem Kaffeesatz und aus Zigarettenasche lesen zu können. Sie bezeichnet sich selbst als Wahrsagerin [...]" (Az. 5 StR 302/97).

Soweit sich Mitgefangene der "Wahrsagerin" gegenüber wegen ihrer Taten geständig zeigten, bot diese an, mit magischen Mitteln auf Staatsanwaltschaft und Gerichte einzuwirken, um ein mildes Urteil zu erreichen. Der esoterischen "Beichte" half die Gefängnismagierin womöglich noch mit Haschischgaben nach. Der BGH rechnete diese Befragungsmethoden letztlich den Ermittlungsbehörden zu und kritisierte das Landgericht Berlin (LG) dafür, sich damit nicht auseinandergesetzt zu haben, obwohl "aus den Akten Hinweise auf eine Zusammenarbeit der Zeugin mit der Polizei vorlagen und die Zeugin sich dem LG als 'schillernde', in der Wahl ihrer Methoden fragwürdige Person darstellte."

Kaiser Konstantin gegen diskrete Magie, BGH und "hL" dafür?

In der Gesetzgebung des spätrömischen Kaisers Konstantin, der zwischen 306 und 337 herrschte und dem Christentum die Wende zur Staatsreligion brachte, machte Marie Theres Fögen ein erstes Verbot einheimisch-römischer Magiekünste aus, das sich ähnlich halbherzig ausnimmt wie die heutigen Einhegungen des Aberglaubens durch die Justiz:

"Im Jahre 319 hatte der haruspex seine Premiere auf der Bühne des Rechts. Seine altehrwürdige Aufgabe war es, aus der Leber von Opfertieren den Willen der Götter zu erforschen, aus dem Blitzschlag Glück oder Unglück zu prognostizieren und andere ungewöhnliche Erscheinungen auf ihre Bedeutung zu befragen."

Der Haruspex stand, wie Fögen schreibt, allerdings nicht nur "dem Staat zur Verfügung, der reichlich und gerne von seinem Rat Gebrauch machte". Weniger seriöse Kollegen der staatlich bestallten Wahrsager verdingten sich im privaten Bereich und lasen im Auftrag ihrer deutungsbedürftigen Klientel aus dem Kaffeesatz der Antike, regelmäßig also aus Tierlebern.

Gegen diese private, nicht öffentlich kontrollierte Tätigkeit der Wahrsager erließ Konstatin ein Gesetz, das Fögen – abweichend von anderen Historikern – weniger als inkonsequentes Verhalten eines "christlichen" Kaisers gegenüber dem alten Aberglauben bewertet, sondern als ersten Schritt des römischen Herrschaftsapparats, sich die Macht über die verschiedensten Welterklärungsangebote auf dem antiken Deutungsmarkt anzueignen. Dieses Monopolisierungsstreben nahm nun eindeutige Formen an: Ein Sklave, der magische Auskunft über das Schicksal seines Besitzers einholte, wurde nach römischem Recht gekreuzigt. Dem römischen Bürger, der sich über den Kaiser okkult erkundigte und damit Macht anmaßte, winkten die Löwen im Zirkus.

Während Konstantin den öffentlichen Dienst des Haruspex noch zuließ, nur die private Deutung von Gegenwart und Zukunft verbot, zeichnet sich in der jüngsten Entscheidung des BGH zur Wahrsagerei eine gegenläufige Tendenz ab. Die höchsten deutschen Zivilrechtler befassten sich in ihrem Urteil vom 13. Januar 2011 unter anderem mit der Frage, wie die Leistungen von heutigen Magiern aussehen müssten, um von Rechts wegen mit einen Honoraranspruch belohnt zu werden (Az. III ZR 87/10). Denn, wie schon im Fall vor dem Landgericht Augsburg, ging es um die Abgrenzung von naturwissenschaftlich fragwürdiger, im juristischen Jargon also "unmöglicher" und damit keiner Gegenleistung würdiger Einflussnahme des Magiers auf das Schicksal seines Klienten, einerseits. Grundsätzlich zur Begründung eines Honoraranspruchs denkbar ist, andererseits, die eventuelle "Beratungsleistung" des esoterischen Consultingunternehmers. Allenfalls umstritten ist dabei, wie diese Entscheidung dogmatisch einsortiert werden kann.

Dass Wahrsager eine, wenn auch minimale psychologische Leistung erbringen können, erkennen auch die organisierten Skeptiker der "Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften" an: Durch sogenanntes "Cold Reading" können die selbsternannten "Lebensberater" aus unscheinbaren Details in Kleidung, Benehmen, Sprache und freiwilligen Auskünften ihrer esoterikgläubigen Klienten deren "Schicksal" lesen. Diesen – bei Menschen in Not oder von geringem Verstand gefährlichen – Spaß darf man sich hierzulande auch von Rechts wegen etwas kosten lassen – im Prinzip jedenfalls, weil auch esoterischer Spuk Gegenstand von Vertragsfreiheit ist.

Das Gesetz des Kaisers Konstantin aus dem Jahr 319 nach Christi Geburt hätte den esoterisch beratenen Bürger besser geschützt als der BGH im Jahr 2011 post Christum natum: Dem Haruspex war es ganz grundsätzlich untersagt, dem römischen Bürger allerlei Zukunftswünsche und Gegenwartsprobleme mittels "Cold Reading" aus der Toga heraus- und in die Haustierleber hineinzuinterpretieren. BGH und Rechtswissenschaft ziehen erst beim Versprechen, diese Zukunft magisch auch herzustellen beziehungsweise bei der unangemessenen Honorarleistung die Grenze.

Scherzhafte Berührungspunkte von Recht und Magie

Eine Wahrsagerin im Strafvollzug bewirkt, womöglich jedenfalls, durch Drohung mit okkulten Mächten von einer Mitgefangenen ein Geständnis, dessen gerichtliche Verwertung von Rechts wegen angegriffen wird. Deutsche Ziviljuristen ziselieren den feinen Unterschied zwischen gegenleistungsfähiger "Beratung" auf esoterischer Grundlage und verwerfen nur das Versprechen, magisch in die Kausalverläufe einzugreifen.

Das ist größtenteils harmlos. Ein etwas unbehagliches Gefühl löst eher eine Randnotiz aus der Gesamtschau jüngerer deutscher Wahrsagereijustiz aus. Bekanntlich stünde zwischen einem ungeklärten Todesfall, ein Mensch fällt bei bester Gesundheit auf offener Straße tot um, und der Behauptung einer "Hexe", sie habe diesen "Taterfolg" durch einen "Schadenszauber" kausal bewirkt, nicht der Wortlaut des Gesetzes, sondern nur die juristische Überzeugung, dass eine magische Handlung nicht zu realen Schadensereignissen führt. Vor dem "Allgemeinen Teil" (AT) des Strafgesetzbuches steht also die naturwissenschaftliche Allgemeinbildung von Juristen. Der "Brockhaus" in der Gerichtsbibliothek könnte sozusagen der "AT" vor dem "AT" sein. In einer einschlägigen Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf ist nun zu lesen:

"Unter Kartenlegen versteht man nach lexikalischen Nachweisen eine Wahrsagepraktik, aus Spielkarten Auskunft über verborgene oder zukünftige Dinge sowie Ratschläge zu erhalten. Wahrsagen beruht häufig auf Aberglauben oder Betrug, wenn mitunter auch besondere mediale Fähigkeiten zu konstatieren sein sollen."

Die Düsseldorfer Richter zitieren dies aus dem "Großen Brockhaus" in seiner 16. Auflage von 1955/57 und zwar in einem Urteil aus dem September 2008 (20 U 123/08). Man will die ironische Besorgnis nicht zu sehr bemühen, aber doch hoffen, dass sich die deutsche Richterschaft bemüht, ihren Schatz an Vorurteilen davon, wie die Kausalbeziehungen in dieser Welt gestrickt sind, besser auf dem Laufenden halten als nach einem "AT vor dem AT" aus dem Jahr 1955/57.

Etwas weniger scherzhaft ist ein Aspekt, den Marie Theres Fögen in ihrer Habilitation aufbereitete: Es ging den römischen Kaisern und den Juristen darum, die Weltdeutung aus den Händen der magischen Experten zu nehmen. Darin kann man heute auch eine Leistung zugunsten der westlichen Zivilisation sehen, weil damit – wenn auch auf sehr lange Sicht – der Weg einer naturwissenschaftlich zweifelnden, von magischen Verwirrungen befreiten Neugierde eröffnet wurde.

Wohin heute mit dieser Neugierde? Die von Helmut Schmidt gerne so genannte "politische Klasse" der Gegenwart verhält sich gegenüber den modernen "Sehern" und Eingeweideinterpreten ähnlich wie ihre spätantiken Vorgänger: Man muss als Angehöriger dieser Oberschicht mit den Orakelsprüchen der Ratingagenturen, Politikberater und Meinungsforscher umgehen, auch wenn man sie nicht mag.

Interessant wäre es schon, ob es wieder rund anderthalb Jahrtausende braucht, bis man juristisch oder politisch zu unterscheiden lernt: Zwischen dem, was etwa bei der Zukunftsbeschreibung einer Ratingagentur eine gegenleistungsfähige Aussage ist, und dem, was verdammungswürdige Esoterik bleibt.

Den Löwen wird der volkswirtschaftlich vorgebildete Haruspex der Gegenwart von Juristen jedenfalls nicht vorgeworfen. Ob das den Erkenntnisdrang beschleunigt?

Hinweis:

Die Habilitationsschrift von Marie Theres Fögen aus dem Wintersemester 1992/93, auf die ich hier etwas nassforsch als journalistischer "Holzschnitzer" zugegriffen habe, erschien unter dem Titel "Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum Wissensmonopol in der Spätantike" als Suhrkamp-Taschenbuch 1997.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

 

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Wahrsagerei und Recht: . In: Legal Tribune Online, 01.01.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5203 (abgerufen am: 07.11.2024 )

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