Rechtsgeschichten: Sicher tot und doch verschollen

von Martin Rath

22.03.2015

2/2: Zivilisten als Kriegsverschollene

Nun wird sich der geneigte Leser vielleicht fragen, warum sich die bayerische Justiz des Jahres 1955 auf die Ungenauigkeiten von Legalfiktionen nach dem Verschollenheitsrecht einließ, statt medizinisch-forensisch Beweis zu erheben, zumal der Witwer Todesurkunden beibringen konnte. Ein Teil der Antwort ist nachzuliefern: Die Bäuerin Wilhelmine S., ihre Tochter Wilma und die Enkelsöhne Karl-Heinz und Günther fanden ihren Tod auf einem Gehöft, das auf dem Gebiet des mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiederbelebten Völkerrechtssubjekts Tschechoslowakei lag – einfacher gesagt: im sogenannten Sudetenland, dem bis dahin deutschsprachigen Teil der  Böhmens und Mährens, der 1939 vom Deutschen Reich annektiert worden war.

Der spätere SPD-Politiker Peter Glotz (1939-2005), selbst Kind einer böhmisch-deutschen Familie, beschreibt die Zeit vor der systematischen Vertreibung der Sudetendeutschen, namentlich jenen Mai 1945, der den bayerischen Richtern am 22. März 1955 vor Augen stand, als eine Zeit völliger Verrohung und Rache: "Vierzehnjährige Jungen auszupeitschen und anschließend zu erschießen, weil sie aus Hunger Äpfel vom Baum gestohlen hatten, ist ein Verbrechen, selbst wenn diese Burschen die Söhne von Verbrechern gewesen sein sollten. Sicher war nur, dass sie die Söhne von Deutschen waren." Glotz hält fest, dass "solche Verbrechen tausendfach vorkamen" – und dem politischen Kalkül der Beseitigung von 3,5 Millionen deutschsprachiger Menschen aus der Tschechoslowakei entsprachen.

In der räumlichen und seinerzeit noch zeitlichen Nähe vertrat das Bayerische Oberste Landesgericht die Rechtsauffassung, dass auch die Flucht vor dieser Menschenschinderei in die Selbsttötung unter Art. 2 § 1 Abs. 1 VerschÄndG zu subsumieren ist. Der Suizid wegen der drohenden wilden Enteignung und Folter galt als "im Zusammenhang mit Ereignissen des letzten Krieges vermißt".

Verschollenheitsrecht: ein Massengeschäft wird normiert

Um die Masse der unaufgeklärten, im gewaltsamen Detail oft unaufklärbaren Todesfälle des Zweiten Weltkriegs personenstands- und erbrechtlich abschließen zu können, gaben Gesetz und höchstrichterliche Entscheidungspraxis auch hier eine großzügige Subsumtion unter das Verschollenheits- beziehungsweise das noch etwas weitere Verschollenheitsänderungsgesetz vor.

Damit sind sie Teil einer Gesetzgebungsgeschichte, das sich als Versuch lesen lässt, der bestialischen Szenen des 20. Jahrhunderts wenigstens personenstandsrechtlich Herr zu werden.

Im ursprünglichen Zustand der §§ 13 bis 20 Bürgerliches Gesetzbuch und der §§ 960-976 Civilprozeßordnung (Rechtsstand: 1.1.1900-TT.MM.1939) nimmt sich das Verschollenheitsrecht nachgerade niedlich aus. Beispielsweise unterschied § 16 Abs. 2 BGB, ob das Schiff eines mutmaßlich Verstorbenen im der Ostsee, dem Mittelmeer oder einem entfernteren Gewässer untergegangen war.

Im Ersten Weltkrieg beschleunigte die Kriegsverschollenenverordnung vom 18. April 1916 (RGBl. S. 296) das Todesfeststellungsverfahren, begrenzte dieses aber auf den geografischen Raum der Schlachtfelder und Schützengräben und die beteiligten Streitkräfte. Ihr § 17 unterstellte, dass es immer noch verantwortliche Offiziere gab, die das Verfahren durch amtlich gesiegelte Urkunden über militärische Gefahrensituationen aufzuklären helfen.

Das Verschollenheitsgesetz von 1939 schrieb eine novellierte Kriegsverschollenenverordnung von 1917 fort (RGBl. S. 702 bzw. 704), wonach die Staatsanwaltschaft im zuvor rein zivilprozessual aufgebauten Verschollenheitsverfahren zu beteiligen ist. Bereinigt um jene Vorschriften, die im Sommer 1939 die personenstandsrechtliche Übernahme der "Ostmark" Österreich sowie des "Reichsgaus Sudetenland" regelten (Verschollenheitsgesetz v. 4.7.1939, RGBl. I S. 1186), ist es, leicht überarbeitet und neu herausgegeben, seit 1951 das geltende Recht (BGBl. I S. 63).

Juristisches "Palimpsest"

Die ursprünglichen Paragraphenziffern des BGB-Verschollenheitsrechts hat der Gesetzgeber im Jahr 2002 neu verwendet, das Gesetz wirkt hier nun ein wenig wie ein Palimpsest, eine antike, mehrfach überschriebene Urkunde. Wie viel "zivilistische" Substanz dem deutschen Recht im 20. Jahrhundert verlorgenging, dazu geben die §§ 13 bis 20 BGB und §§ 960 bis 976 der Civilprozeßordnung Anschauungsmaterial.

Der Fall des sudetendeutschen Familienselbstmords mit dem anschließenden etwas makabren verschollenheits- und erbrechtlichen Nachspiel, das der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 22. März 1955 dokumentiert, gibt einen Fingerzeig auf die bestialischen Vorgänge der letzten Kriegs- und der ersten sogenannten Friedensmonate 1945 bis 1948. Man vergisst das gern, wenn aktuell Entschädigungsforderungen diskutiert werden.

Unwillkürlich fragt man sich – mit der Arroganz von 60 Jahren Zeitabstand –, um welches Erbe sich Schwager und Schwägerin wohl gestritten haben könnten. Um einen Bauernhof in Böhmen, den beide nie wiedersehen würden? Bestenfalls Forderungen aus dem Lastenausgleich?

Von den zwölf bis 14 Millionen Menschen, die zwischen 1945 und 1949 aus den sogenannten Ostgebieten auf das spätere Gebiet der Bundesrepublik Deutschland flohen, kam die Mehrzahl ohne solche Gerichtsverfahren aus. Zumeist mangels Masse. Ihre Enkel und Großenkel hören heute von Kredit-, Schadensersatz- und Reparationsforderungen aus jener Zeit und wundern sich.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten: . In: Legal Tribune Online, 22.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15002 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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